Schattenwelt  –  Chat mit Seneca
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Romuald Richthausen, Lehrer der alten Sprachen an einem namhaften Münchener Gymnasium, war mit sechzig Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Nicht dass er sich wegen gesundheitlicher Probleme dazu veranlasst gesehen hätte, nur sein Gehör hatte deutlich nachgelassen, so dass er nun ein Hörgerät brauchte. Er war unverheiratet, galt als ein wenig schrullig, was aber seinem Ansehen in seinem Kollegium und seiner Beliebtheit bei seinen Schülerinnen und Schülern nicht schadete.   Kaum im, wie man so sagte, wohlverdienten Ruhestand angelangt, wurde das ganze Land, ja die ganze Welt von der Pandemie einer hochansteckenden und sogar lebensbedrohlichen Atemwegserkrankung mit dem verheißungsvollen lateinischen Namen „Corona“ überfallen: So hatte man sich Globalisierung nicht vorgestellt.

Wie soll der Mensch in dieser unsicheren Gegenwart leben, war die Frage, die Romuald immer mehr beschäftigte. Vielleicht hatte die Philosophie darauf eine Antwort? Nicht einfach nur leben,  das Leben irgendwie fristen, sondern glücklich leben! Richtig, Seneca: De vita beata – Vom glücklichen Leben, verfasst in Zeiten größter innerer Unsicherheit unter den julisch-claudischen Nachfolgern des Friedenbringers Augustus.                                                                              

Die Frage nach dem glücklichen Leben förderte in der gegenwärtigen Beschränkung und sozialen Isolation die vielfältigsten Antworten und Lösungsvorschläge zutage. Da waren jene, die sich im Gegensatz zu den Coronaleugnern in der Sorge um ihre Gesundheit, ja um ihr Leben völlig den Vorgaben der Experten und der von ihnen beratenen Politiker unterwarfen und die Pflicht, Gesichtsmasken als Schutz gegen die Ansteckung zu benutzen und Abstand zu den Mitmenschen einzuhalten, peinlichst genau befolgten. Einmal kam Romuald ein Herr entgegen, den er trotz seiner Mund – Nasen – Maskierung als ehemaligen Kollegen zu erkennen glaubte. Plötzlich wechselte dieser die Straßenseite und ging, starr geradeaus blickend, an ihm vorüber in die Gegenrichtung. War diese soziale Amputation die Garantie für ein glückliches Leben? Homo homini virus?  Die Sterbezahlen nahmen zu, in Pflegeheimen und Kliniken mussten Todkranke einsam und ohne tröstenden Zuspruch und Abschied sterben.

Lebte man nicht unter dem Zwang des Corona-Virus in einer Schattenwelt, in der das Leben so reduziert war, wie er es sich vorher nie hatte vorstellen können. Abstand! Abstand! hieß das unerbittliche Gebot. Unwillkürlich dachte er an die strenge Sibylle in Vergils Epos, ihre Ermahnungen und Warnungen bei Aeneas’ Unterweltbesuch. und ihr Verbot, seinen Vater Anchises bei ihrer Begegnung auch nur zu umarmen.  Und ständig die Meldungen: „Die Infektionszahlen wachsen immer noch, kein Ende abzusehen! Weniger Kontakte! Keine Kontakte!“

Vor seinem Computer sitzend war er dabei, Informationen über   Seneca zu suchen. Wie war das doch mit seiner Verbannung gewesen? Plötzlich  ein Flackern auf dem Bildschirm, dann der Hinweis: „Störung! Ihr Computer ist nicht sicher!“ Was war das? Er hatte sich doch nur wie gewohnt über Wikipedia informieren wollen. Zunächst war er aufgefordert worden, den vollständigen Namen einzugeben. Also gut: Lucius Annaeus Seneca. Daraufhin wieder das Flackern auf dem Bildschirm, wilder als vorher. „Utere tramite nuntiorum Romanorum diffundendorum!“ Wie bitte? Das war ja Latein. „Tramite“, Nominativ Singular „trames“, Genitiv „tramitis“, ein seltenes Substantiv: „Seitenweg, Pfad“. Ach so, gemeint war wohl: „Schalte auf  Streaming-Kanal für Informationen über Römer!“ Ratlos, wie er war, klickte er diesen Schriftzug an. Der verschwand sofort, doch an seiner Stelle erschien ein ernstes bartloses Gesicht mit Stirnglatze, und es ertönte die Frage: „Quid optas, Romualde?“ „ Was willst du, Romuald?“

Romuald war sprachlos. Was sollte er antworten? Wer war das überhaupt? Er erinnerte sich an Abbildungen antiker Köpfe. Das könnte Seneca sein. Zaghafte Frage: „Sind Sie, bist du vielleicht Seneca?“ „Cur dubitas?“, „Warum zweifelst du?“, die Gegenfrage, „aber nenne mich einfach Lucius, beim Vornamen, so wie ich dich Romuald nenne!“

Das Gespräch ging ins Deutsche über. Offenbar war eine automatische Simultanübersetzung am Werk.  So weit war also schon KI, künstliche Intelligenz! Woher kannte Seneca seinen Namen? Kein Datenschutz?

„Also Romuald, was willst du?“

„Verbannung! Wa …Warst du nicht einige Zeit in der Verbannung?“, stotterte Romuald. Darüber hätte ich gern eine Auskunft.

S:   „Gewiss, acht Jahre auf Korsika, von 41 bis 49 neuer Zeitrechnung. Was ist daran für dich interessant?“

R:   „Nun ich, wir alle leben seit einiger Zeit in einer völlig veränderten, ungewohnten Welt. Eine Seuche, ein Virus, Covid 19 genannt, hat die Herrschaft übernommen und uns Menschen weitgehend voneinander isoliert, wegen der Ansteckungsgefahr. Ohne Ortsveränderung leben wir trotzdem wie in der Fremde und werden unseren Mitmenschen immer fremder. Außer der Arbeit für den Lebensunterhalt gibt es so gut wie keinerlei Teilhabe an vertrauter Kultur, an Musik, Theater, bildender Kunst! Wir sind dabei zu verkümmern. Ein Gefühl der Verbannung! War das bei dir auch so?“

S:   „In gewisser Weise schon. Ich war isoliert, musste, wie gesagt, nach Korsika, damals eine besonders wilde, unzivilisierte Insel. Von dem gewohnten Latein keine Spur, kein sprachlicher Austausch, keine Freunde, nichts dergleichen.“

R:   „Warum musstest du in die Verbannung?“

S:   „Ich hatte sogar noch Glück. Die verleumderische Anklage Messalinas, der machtlüsternen Gattin des Kaisers Claudius, ich hätte mit ihrer Cousine Livilla ein ehebrecherisches Verhältnis gehabt, wäre beinahe mein Todesurteil gewesen. Ihr kaiserlicher Gatte, der die Lüge wohl durchschaute, milderte das Todesurteil  in  Verbannung, genauer gesagt in eine Relegation. So durfte ich wenigstens meine Bürgerrechte und mein Vermögen behalten.“

R:   „Aber acht Jahre, eine lange Zeit, Lucius. Wie hast du das ertragen?“

S:   „Mit Vernunft. Ich sagte mir: Veränderung ist nun einmal der Lauf der Welt. Dagegen kann man sich nicht stellen, ich kann mich nur darauf einstellen. Außerdem bin ich frei von Pflichten, im Ruhestand ohne Verpflichtungen und Aufgaben. Muße! Ich kann mich mit den Dingen beschäftigen, zu denen ich sonst nicht komme. Damit suchte ich auch meine Mutter Helvia zu trösten, die sich so sehr über mein Schicksal grämte. Ich versicherte ihr, ich sei fröhlich, sie solle sich meinetwegen keine Sorgen machen. Wie ich dir schon sagte, dauerte es bei mir acht Jahre, bis ich wieder zurückgerufen wurde.“

R:   „In unserer Verbannung, wie ich sie dir beschrieben habe, fehlt es  vor allem an Geduld, von der du gesprochen hast. Es ist ein großes Gejammer: Der eine jammert über geschäftliche Verluste, der andere über entgangene Vergnügungen, über den Mangel an freier Entfaltung wegen der Reisebeschränkungen, über die kulturelle Verödung. Andererseits herrscht eine große Angst vor der Infektion..“

S:   „Es fehlt offensichtlich das, was wir Stoiker tranquillitas animi oder ataraxia nennen.“

R:   „Man könnte das vielleicht mit „innere Ruhe“ und „Gelassenheit“ übersetzen.“

S:   „Ja, ich glaube, das ist richtig.“

R:   „Und wie erreicht man das?“

S:   „Der Vernunft, also der menschlichen Natur gemäß leben! Nichtr den Lüsten und Begierden gehorchen!

So kann man Freiheit und glückliches Leben auch unter widrigsten Umständen bewahren.  Aber entschuldige, meine Zeit ist für heute um. Ich würde gerne ein andermal das Gespräch fortsetzen“

„Ich habe noch so viele Fragen. Wie kann ich dich erreichen?“

Senecas Gesicht verschwamm, löste sich auf, wie von ferne und immer undeutlichere vernahm Romuald: Trames nuntiorum Romanorum diffundendorum.“

Romuald schöpfte aus der Begegnung mit Seneca und der antiken Philosophie manche Erkenntnisse für das Leben in dieser Pandemie. Hatte man nicht die Vernunft als wichtigstes Merkmal der menschlichen Natur immer mehr geleugnet und an ihre Stelle die laute Lust des Vergnügens, des ungehemmten Konsums und der Gewinn- und Besitzgier gesetzt? Die Vernunft der Aufklärung war verdrängt vom Bauchgefühl des Sinnengenusses. Der Verstand, ja der wurde anerkannt als Instrument der Gewinnmaximierung durch immer neue Erfindungen, Entdeckungen und Verführungen. Aber Verstand ist nicht dasselbe wie Vernunft; er kann sich in ihren Dienst stellen, aber genauso auch gegen sie wirken bis hin zur Förderung von Begierden.

Ob er wohl noch Gelegenheit haben würde, Seneca  zu fragen? In den folgenden Tagen schlugen seine Versuche fehl, das Streaming-Programm für den Kontakt mit der frühen römischen Kaiserzeit wieder zu finden. Dafür immer neue Nachrichten von Experten und Politikern über steigende Infektions- und Sterbezahlen, über Gipfeltreffen ohne Ende, die Erklärungen bieten, Hoffnungen wecken sollten, aber ständig noch mehr Verwirrung stifteten. Dazu Meldungen über so genannte Querdenkerdemonstrationen gegen pandemiebedingte Beschränkungen, allzu oft von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet. „Querdenken“ als Vernunftverweigerung, so schien es Romuald. War das die Unterwerfung unter das Diktat der Lüste, von der Seneca gesprochen hatte? Verschwörungstheorien, mit denen angeblich die Freiheit verteidigt wurde?

Ratlos bei seinen vergeblichen Versuchen, über das Internet nochmals einen Kontakt zu Seneca herzustellen, lud er eines Abends seinen  Nachbarn ein, der ihm schon öfter bei Problemen mit dem Internet geholfen hatte. Sie  stießen mit einem Barolo auf gute Nachbarschaft an, wobei Romuald sagte, er wolle sich auf diese Weise endlich einmal für die Hilfsbereitschaft Wielands – so hieß sein Besucher – bedanken. Wieland sagte, er verstehe zwar nichts von Weinen, aber an so einen Tropfen könnte er sich schon gewöhnen. „Jaja“, sagte Romuald, der Barolo sei einer der besten und auch kräftigsten Rotweine Italiens. Einen kleinen Hintergedanken habe er aber doch,  das könne er nicht leugnen; es gehe um ein Streaming – Programm im Internet, nach dem er schon einige Zeit vergeblich suche. Wieland könne ihm bestimmt dabei helfen. Der nahm noch einen Schluck von dem Barolo und wandte sich dem Laptop zu, den Romuald inzwischen eingeschaltet hatte. Dann murmelte er etwas von Neflix, Amazon, Disney und Ähnlichem und fragte dann, was Romuald in dem Streamingangebot suche. „Klassische Musik, Theater oder Filme?“ „Nein“, sagte Romuald, „es geht um Seneca, einen römischen Philosophen, und die julisch-claudischen Kaiser aus dem ersten Jahrhundert nach Christus.“

„Also ein Bildungsprogramm zur Geschichte“, meinte Wieland, „das muss es schon auch geben.“

„Es geht um etwas anderes“, erwiderte Romuald. „Neulich ist es mir durch puren Zufall gelungen, den Online – Kontakt  zu Seneca persönlich herzustellen und mich mit ihm zu unterhalten. Und jetzt schaffe ich das nicht mehr. Das Programm beziehungsweise der Kanal lautete: Trames nuntiorum Romanorum diffundendorum, das weiß ich noch. Aber wie und wo man es aufrufen kann, das weiß ich nicht mehr. Ich möchte Seneca unbedingt noch einige Fragen stellen, gerade auch im Zusammenhang mit dieser Corona-Pandemie.“

„Ja, wenn das so ist“, Wieland schaute Romuald groß an, „da weiß ich auch nicht weiter, tut mir leid. Aber vielen Dank noch für den wunderbaren Wein. Barolo – werde ich mir merken. Schönen Abend noch!“

Name der Autorin/des Autors
Hubert Scbießl
Schattenwelt  –  Chat mit Seneca

Ein Kommentar zu „Schattenwelt  –  Chat mit Seneca

  • 15. April 2021 um 18:56 Uhr
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    Eine wunderbare Idee, Gegenwart und Vergangenheit zu verknüpfen und damit auf das aktuelle Pandemiegeschehen Bezug zu nehmen! Die Idee, dies über den Computer zu tun, durch Zufall auf die betreffende Kommunikations-Seite zu kommen und in einen Gedanken- Austausch mit Seneca zu geraten, ist vergnüglich und lehrreich, sofern man sich auf die Thematik der Pandemiebekämpfung einlassen möchte: Seneca erreicht Romuald mit dem Bericht über seine Verbannung und relativiert die Entbehrungen, die die Gesellschaft im Hier und Heute zu „ertragen“ hat… Romuald hofft auf einen weiteren Austausch, er hätte noch einige Fragen, aber auch der Barolo trinkende Nachbar schafft keine Verbindung mehr in die Antike – schade, man hätte noch gerne mehr erfahren!!

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