„Von Alcatraz an Land“, sagte Pete.
Wir saßen am Ufer des Rhein-Herne Kanals, jeder mit einer Dose Bier, zwischen uns eine Packung Chips aus der wir uns abwechselnd bedienten. Pete hatte seit zwei Wochen wieder einen Job auf dem Bau und als er erleichtert seufzte, das sei jetzt endlich wieder eine Perspektive, fragte ich ihn nach seinen Plänen. Ich weiß nicht genau, was ich für eine Antwort erwartete, aber jedenfalls nicht die: „Schwimmen. Von Alcatraz an Land!“
„Ist das nicht diese Gefängnisinsel in San Francisco, von der nie jemand flüchten konnte?“
„Ich schon, Timo, ich schaffe das!“
Das Gefängnis sei schon lange geschlossen und die gefährlichen Kilometer zwischen Insel und Festland hätten mittlerweile etliche Schwimmer bewältigt. „Klingt spannend“, nuschelte ich mit vollem Mund. „Bei mir ist das letzte Schwimmtraining allerdings zehn Jahre her.“
„Man kann wieder anfangen“, erwiderte Pete und der Satz hing dann zwischen uns in der Luft wie die weißen Schäfchenwolken am Himmel, die im Sommerwind hin und her tanzten.
Also schwimmen.
Wir kraulten um die Wette, übten die Rettungsgriffe und chillten anschließend am Ufer. Dann kam der Herbst und Petes unerbittlicher Satz: „Ich mache weiter“. Schließlich erwarteten ihn in Alcatraz auch Temperaturen unter 16 Grad. Janine hatte sich unseren Schwimmertreffen angeschlossen und eines Tages erschien sie mit Neoprenanzug. „Das ist echt très bien“, erklärte sie in ihrem Sprachen-Mischmach. Sie verwendete viele französische Wörter und obwohl sie als Dolmetscherin arbeitete, legte sie privat nicht viel Wert auf korrekte Übersetzung. Wir mussten ihre Vokabeln einfach so verstehen und meistens klappte das auch. Janine hatte dann noch Giampiero überredet, uns beim Schwimmen zu begleiten, Typ heißblütiger Italiener, der sich wohl mehr für Janine als für das Training interessierte.
Es wurde winterlich, Pete wieder arbeitslos. Aber wir vier trafen uns weiterhin am Kanal.
„Oh, mon dieu“, flötete Janine, jedes Mal nachdem sie mit ihrer schmalen Hand die Wassertemperatur geprüft hatte und Giampiero stellte fest. „Sorry, unter 5 Grad ist mir das auch mit Neo zu kalt“. Janine konnte ihn wie immer verstehen und bald saßen die beiden gemeinsam am Ufer und wärmten sich, während Pete und ich durch die graubraune Kälte pflügten.
Manchmal kam Hendryk noch dazu, wenn er nicht viel Kundschaft an seiner holländischen Pommesbude hatte, dann brachte er uns eine Portion von den fettigen Kartoffelstäben mit und lachte während wir die Kalorien ausgehungert in uns hinein stopften.
Pete bekam Muskeln, ich kaufte Bücher über Trainingslehre und Janine wurde schwanger. Giampiero sagte „Scheiße, ich wollte nie Vater werden.“, Hendryks Bude mussten wir nach einem Brandschaden renovieren. Zwischen all den Ereignissen war der Kanal unser gemeinsamer Pulsschlag.
An einem Montag waren Pete und ich als Erste am Treffpunkt. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, sich atemberaubend schnell die Badehose anzuziehen, verweilte er noch am Ufer und sagte in Richtung Wasser: „Es geht nicht. Ich habe kein Geld. Alcatraz ist zu weit weg.“
Ich wusste, dass er Recht hatte, aber trotzdem oder gerade deshalb verschlug es mir einen Moment die Sprache.
Das war die absolute Katastrophe.
Das Ziel war verschwunden und damit der Kit, der uns alle zusammenhielt. „Los, wir müssen im Wasser sein bevor die anderen kommen.“, befahl ich, statt zu antworten und war dankbar für die kalte Dunkelheit, die mich kurz darauf umschloss. Wir schwammen um die Wette, die anderen johlten uns bald darauf vom Ufer aus zu, wie immer und doch war alles anders.
Das nächste Training sagte Pete ab.
Giampiero und Janine hielten Händchen, Hendryk brachte eine extra Portion Pommes und ich schwamm neuen Rekord.
Alles war gut und doch war es sinnlos geworden.
Pete war nur noch gelegentlich am Start und wenn die werdenden Eltern nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wären, hätten sie sicher längst nachgefragt, was denn los sei. Es wurde allmählich wieder Frühling, Janines Bauch wuchs, und schließlich erklärte sie: „Also, ich schätze demnächst werde ich nicht mehr zu den Treffen kommen, es geht jetzt bald los.“ Vorher wollte sie uns aber noch auf eine Runde Cola und Grillwurst einladen und weil die Zeit drängte, trafen wir uns alle an einem Mittwochabend, obwohl das Wetter sehr zu wünschen übrig ließ. Das Wasser war sowieso noch Frühjahrs-kalt, der Himmel bewölkt, dazu ein kühler Wind. Dennoch waren Leute am Kanal, dort war eigentlich immer etwas los. Ein paar Angler, einige Unentwegte, die den Grill auspackten wie wir.
„Wenn es ein Junge wird, heißt er Enrico“, erklärte Giampiero, wir hoben unsere Coladosen, um anzustoßen und im selben Moment sprang Pete ins Wasser. Die Jacke flog durch die Luft, sein trainierter Körper wie ein Bumerang in den Kanal. Es war ein Windzug, der unsere Gesichter in Richtung der Wasserfläche riss, gleichzeitig der ohrenbetäubende Schrei einer Frau: „Ceylan!!“
Pete war ins Wasser gesprungen, um ein Kind zu retten!
Ich knallte die Coladose auf den Boden und spurtete zu der Leiter, die in den Kanal führte und auf die Pete bereits zuhielt, den Kleinen sicher im Schlepptau. Perfekter Rettungsgriff, schoss es mir einen Moment stolz durch den Kopf, dann reichte mir Pete schon den schreienden Jungen entgegen. „Ceylan, Ceylan“, wiederholte die Mutter immer wieder tränenüberströmt und wickelte den kleinen Flüchtling kurz darauf in ihr Kopftuch, um ihn zu trocknen. Unterdessen kam auch Pete aus dem Wasser, tropfnass, aber mit einem Strahlen im Gesicht, als hätte er einen Kronleuchter verschluckt.
„Cool“, grinste Janine, während Giampiero schnaubte: „Wenn die nicht auf ihre Plagen aufpassen kann, muss sie eben sehen, was sie davon hat!“
Pete goss das Wasser aus seinen Turnschuhen, zog sie dann wieder an. Als er sich aufrichtete sagte er: „Weißt du Giampiero, wenn dein Enrico mal da ist, sprechen wir nochmal darüber.“
„Yes“, bestätigte ich, weil ich Pete irgendwie unterstützen wollte.
In dem Moment kam Hendryk um die Ecke und machte große Augen: „Yeetje, seit wann schwimmt ihr in Jeans statt im Neoprenanzug?“
„Der hat sich gerade die Lebensretter-Medaille verdient“, antwortete Giampiero und boxte Pete gegen die Brust.
„Wie soll euer Kind eigentlich heißen, wenn es ein Mädchen wird?“, fragte ich etwas zusammenhanglos und Janine antwortete ohne zu zögern: „Petra!“ Wir mussten alle lachen. Wir kicherten und grölten die ganze Anspannung der letzten Wochen heraus, bis Janine sich plötzlich auf den Bauch fasste und rief: „Mon dieu, ich glaube, es geht los!“
Wie immer: Spannend erzählt und faktenreich!
Eine Kurzgeschichte spannend von der ersten bis zur letzten Zeile, voller überraschender Wendungen hinter deren knapper Sprache sich ein subtiler Humor verbirgt. Fazit: klein aber fein.
Lebendiger Text, authentische Typen. Man kann sich die Szenen lebhaft vorstellen und es macht Spaß, dabei zu sein.
Lebndiger Text, authentische Typen. Man kann sich die Szenen lebhaft vorstellen und es macht Spaß, dabei zu sein.
Wunderbar geschrieben!
wunderschön verpackt, Dein Europa!