Herrlich, die klare Seeluft, der menschenleere Strand. Ich atme tief ein. Gut, dass wir bis
Audresselles gefahren und nicht in Calais geblieben sind. Ich setze mich auf einen der großen
Steine und schaue aufs Meer. Ob man hier baden kann?
„Mutti, Mutti“, ruft Thomas aufgeregt, „sieh mal da!“
Widerwillig drehe ich mich um. „Ja und?“ Meine Augen folgen seinem ausgestreckten Zeigefinger.
„Was ist an der Uferbefestigung so spannend?“
„Schau doch mal genauer hin! Das viereckige Teil, das wie ein Schwalbennest an der Mauer klebt!
Bestimmt ein alter Bunker, wie im Film Die Olsenbande auf Jütland. Hurra, ich hab einen
gefunden“, jubelt er und rennt über die glitschigen Steine.
Ich drehe mich ratlos zu Werner um, der gerade die Seeschnecken untersucht, die sich zu Hunderten
auf den großen Findlingen festhalten.
„Ob das wirklich einer ist?“
„Warum nicht, Frankreich war schließlich im Zweiten Weltkrieg besetzt. Hier irgendwo war ja auch
der Atlantikwall.“
„Aber der war doch in der Normandie und nicht in diesem kleinen Fischerdorf.“
„Wahrscheinlich zog er sich die ganze Küste entlang. Ich schau mir das Fragment mal an“, sagt
Werner und läuft los.
„Ich glaub, wir müssen uns beeilen. Thomas balanciert schon auf der Ufermauer!“, rufe ich ihm
hinterher. Als ich ankomme, sind die beiden in den Bau mit den kleinen Sehschlitzen
verschwunden.
Werner befühlt die Wände und meint: „Erstaunlich gut erhalten, nur ein bisschen verwittert. Ich
glaub sogar, es war ein deutscher Bunker. Das der nach über siebzig Jahren immer noch steht.“
„Siehst du, ich hatte Recht“, ruft Thomas, der auf dem Dach herumhüpft.
Wir gehen weiter den Strand entlang, klettern über große, rutschige Steine, auf denen sich Muscheln
und Seetang festklammern und entdecken immer wieder alte Bunker, die entweder vor der
Uferbefestigung gebaut oder gleich in sie eingearbeitet wurden. Ein merkwürdiges Gefühl, so nah
vor ihnen zu stehen. Wie viele Soldaten werden hier gestorben sein?
Nach einiger Zeit finden wir eine Treppe, die hoch ins Fischerdorf führt und steigen gemeinsam die
bemoosten und ausgetretenen Steinstufen empor. Von hier haben wir einen herrlicher Blick aufs
Meer und auf die grauen Felsen vom Kap Gris Nez, unserem morgigen Wanderziel. Wir spazieren
weiter entlang der massiven Mauer, schauen aufs Meer und betrachten die Fischerhäuschen.
„Das ist ja interessant, Moni. Ein Bunker als Garage. Der hält bestimmt jeder Flut stand. Und hier
haben sie gleich ihr Haus an den alten Klotz angebaut. Wie früher, als die Häuser an der Stadtmauer
standen.“
„Na wenigstens haben sie die Seeschlitze zu kleinen Fenstern vergrößert. Ob darin das
Wohnzimmer ist? Ich könnte da nicht wohnen.“
Aus dem geöffneten Fenster schaut uns eine ältere Frau, die Unterarme auf einem Kissen abgelegt,
neugierig an. „Bonjour, Madame!“, sage ich und bemühe mich, keinen deutschen Akzent zu haben.
Sie lächelt und grüßt zurück.
Am nächsten Vormittag durchqueren wir das Dorf und wandern auf einem schmalen Feldweg
oberhalb der zerklüfteten Steilküste zum Kap. Unter uns liegt das Meer mit dem meist steinigen
Strand und neben uns wogt ein weites Weizenfeld. Thomas hüpft vor uns her, klettert brüchige
Treppen hinab, springt über kleine, gurgelnde Bächlein und steigt über schmale Trampelpfade
wieder hinauf.
„Schau, da stehen sie wieder und sogar in gleichmäßigen Abständen! Wie für die Ewigkeit gebaut.
Selbst der Wind beißt sich an ihnen die Zähne aus“, sagt Werner.
„Mutti, darf ich in den dort hinein klettern?“
„Aber pass auf, dass du nicht mit ihm abstürzt!“
„Sei doch nicht so ängstlich, Moni. Er ist doch aus Stahlbeton. Warte Thomas, ich komm mit.“
Während die beiden den Bunker untersuchen, schaue ich mich um. Neben mir blühen blaue
Kornblumen und weiße Margeriten, unter mir kräuselt sich das blaugraue Wasser und am
Meereshorizont leuchten weiß die von der Sonne angestrahlten Felsen von Dover.
„Feuer!“, höre ich plötzlich und sehe Thomas mit einem imaginären Gewehr heraus klettern. Er hält
es in alle Himmelsrichtungen und ruft: „Peng! Peng! Peng!“
„Hör auf! Sei froh, dass hier kein Krieg ist!“
„Ich spiele doch nur, Mutti!“
Wir gehen schweigend weiter.
„Vati, sind die schmalen Öffnungen Schießscharten?“
„Glaub ich nicht. Wahrscheinlich haben sie dadurch das Meer beobachtet und geschaut, ob
feindliche Schiffe kommen und nur im Ausnahmefall durch diese Schlitze geschossen. Sie hatten
bestimmt ein Geschütz auf dem Dach.“
„Schau, hier haben sie eine Sprengung versucht“, erklärt Werner, als wir an einem Berg
übereinander liegender und in sich verschachtelter Betonteile vorbeikommen und erzählt dann
ausführlich von seiner Armeezeit.
Am Kap wimmelt es von französischen Urlaubern, die ebenfalls die zahlreichen, noch gut
erhaltenen Militäranlagen besichtigen. Thomas und Werner tauchen in der Menge unter. Ich schaue
lieber zur englischen Küste und freue mich, dass ich heute reisen kann, wohin ich will. Hoffentlich
bleibt es auch so.
Plötzlich steht Werner neben mir: „Komm, lass uns ein leckeres Menü im Bistro essen. Hier gibt’s
nicht nur Bockwurst und Bratwurst.“
Auf dem Rückweg entdecken wir mitten auf dem Feld ein überdimensioniertes, fensterloses
Gebäude. Als wir näher kommen, sehen wir die großen roten Buchstaben und entziffern das Wort
musée. Aber wofür? Beim Näherkommen entpuppt es sich als privates Militärmuseum. Hinter
einem Zaun stehen alte Geschütze, Autos, Motorräder und ein auf Schienen fahrbarer Geschützzug.
Thomas und Werner wollen sich unbedingt alles ansehen.
„Sollen wir für dich auch eine Eintrittskarte kaufen?“
Ich zögere. „Eigentlich will ich das nicht sehen. Ich bin froh, dass ich keinen Krieg erleben musste.
Aber wenn ihr unbedingt hinein wollt…“ Widerwillig folge ich den beiden. Im Gang zum ersten
Raum lese ich „Batterie Todt“, sorgfältig mit großen roten Buchstaben auf die Wand gemalt, und
erschrecke. War das eine SS-Division? An den Wänden hängen alte Fotografien von der
Einweihung und den feierlichen Appellen. Todt war also der Kommandant der ganzen
Bunkerbatterie. Wir steigen eine Treppe ins Halbdunkel hinab und stehen vor Vitrinen mit
deutschen, französischen und britischen Uniformen. Dazwischen liegen ein kaputter Fallschirm
eines abgeschossenen englischen Bomberpiloten und Kriegsgerät von 1916.
„Ist ja ein ganz schönes Durcheinander und nichts wird erklärt. Warum werden hier Sachen aus dem
Ersten Weltkrieg ausgestellt?“, frage ich Werner.
„Weil er für die Franzosen viel bedeutender als der Zweite ist.“
Hinter uns unterhalten sich zwei Engländer. Suchen sie die Spuren ihrer Väter? Wir gehen weiter
durch den düsteren Gang bis zu den Mannschaftsunterkünften. Bedrohlich, alles voller Uniformen
und Gasmasken.
„Solche Feldbetten und die blau karierte Bettwäsche kenne ich aus meiner NVA-Zeit“, wundert sich
Werner. „Da hat mein Vater in Italien wohl auch darin geschlafen?“
„Was hat Opa denn erzählt?“
„Er hat nie darüber gesprochen.“
Schweigend gehen wir weiter durch das dunkle Labyrinth. In den Offiziersunterkünften stehen
sogar noch ungeöffnete Weinflaschen. Vor uns läuft eine französische Familie. Ihre kleine Tochter
weint. Ob sie auch Angst vor Uniformen hat wie ich? Wir erreichen wieder einen Raum. An den
Wänden Arbeitsausweise für die französische Bevölkerung, eine Mitteilung über eine nächtliche
Ausgangssperre in Lille und Listen mit den Namen von deportierten Juden, ganze Familien
darunter. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ein rot gerändertes Schild gibt bekannt,
dass Handlungen gegen die Besatzungsmacht bis ins dritte Glied der Familie bestraft werden. Mir
schnürt es die Kehle zu.
„Ich muss hier raus. Kommt ihr mit?“, flüstere ich.
„Wir wollen uns noch den Maschinenraum und die Geschütze im Obergeschoss ansehen“, sagt
Werner zögernd.
„Gut, ich warte am Ausgang. Beeilt euch!“
Während ich auf sie warte, fällt mein Blick auf eine Vitrine. Eng aneinander gereiht stehen
Panzermodelle, liegen originale Fähnchen und Armbinden mit Hakenkreuz sowie die dazu gehörige
deutsche Propagandaliteratur. Alles jeweils mit einem Preisschild versehen. Zwischen den
Gegenständen liegt ein Schild, auf dem steht: Les objets exposés sont en vente au guichet. Die
ausgestellten Gegenstände erhalten Sie an der Kasse.
Ein friedlicher Sommertag
Finde ich eine gelungene Geschichte! Gut auch der Schluss, reimt sich im Französischen sogar, macht das noch perfider. Würde noch „für den Verkauf“ u.ä. mit übersetzen.
Wie heißt denn die Autorin!
Sehr plastisch beschrieben der Gegensatz zwischen Urlaubsathmosphäre und grausamer Vergangenheit, die eben doch spürbar in jede Gegenwart reicht.