Europa ist die alte Nachbarin, die so froh war, als sie mit ihrem griechischen Mann endlich so reisen konnte, wie sie es schon immer empfunden hatte: ganz selbstverständlich. Den Winter verbrachten sie in Thessaloniki, den Sommer in München. Salzburg und Wien bewohnten sie auch gleich noch mit, das waren ihre Herbststädte. Es ist diese Nachbarin, die jetzt die Briten von Herzen bedauert.
Es ist die französische Schülerin, die plötzlich bemerkt – la forêt, forest, foresta, l’intérêt, interest, Interesse … – dass ihr accent circonflexe in anderen Sprachen ein „s“ ist.
Es ist der Slowene, der uns deutsche Touristen beobachtet am Snackautomaten in den Julischen Alpen. Der uns auf seine Terrasse winkt und dort auftischt: Rindfleisch, gekochten Quarkstrudel, Wein und dazu seine Lebensgeschichte. Mit den Punkten der Wachstischdecke zeichnet er die Stationen nach: Steyr, Bruck an der Leitha, Prag und jetzt wieder Tolmin. Er lacht zum Abschied, zeigt auf die Berge und fragt „Warum sollte man hier denn auch weggehen?“
Es sind die Jugendlichen, die in der baufälligen Brennpunktschule eine Art Unterricht absitzen, während sie sich fragen, warum drei Straßen weiter, in der noblen Europäischen Schule, Mehrsprachigkeit gar nicht als Manko gilt. Mehrsprachig sind sie doch alle.
Es sind die Bewohner des ungarischen Dorfes, keine halbe Stunde entfernt vom Ort des Paneuropäischen Picknicks, die Ungarn noch nie verlassen haben. In einer guten Stunde wären sie in Wien, der Zug fährt sechsmal am Tag. Aber: die Sprache … der Aufwand … das Geld und wozu überhaupt? Nicht, dass man am Ende noch verloren geht dort! Trotzdem sind sie begeisterte Europäer, denn „Europa hat uns endlich den Bahnhof saniert.“ Seither kommen sie viel leichter in die Nachbardörfer und manchmal sogar in die Stadt, nach Sopron.
Es sind die Jugendlichen mit dem Interrail-Ticket, die abends noch lange auf der Piazza am Brunnenrand sitzen und ihr Spanisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch zusammenwerfen, bis eine gemeinsame Sprache entsteht, die sie durch die Sommernacht trägt.
Es sind die behinderten Menschen, die seit Jahren um einen ganz normalen Alltag kämpfen, um den Weg in die Stadt, um einen Job oder um eine Wohnung, deren Flur breit genug ist für einen E-Rolli. Es sind Menschen, die für einen kleinen Rest Unabhängigkeit kämpfen. Und denen seit Jahren gesagt wird „Es muss auch mit weniger gehen.“ Es sind diese Menschen, die jetzt gerade vorm Bürgermeister stehen und sagen „Schau her, es gibt die UN-Konvention, alle EU-Mitglieder haben sie unterzeichnet und ratifiziert und ihr müsst sie umsetzen!“
Es ist der Schuster aus Rumänien, der sein Handwerk versteht wie kein zweiter … und der sich jahrzehntelang nicht traute, einen eigenen Laden in Deutschland zu eröffnen, weil er Angst hatte, ein Formular falsch auszufüllen, Gesetze zu brechen aus Unwissenheit. Es ist dieser Schuster, der kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag die beste Schusterei der Stadt eröffnet.
Es ist der Fabrikarbeiter, der mit Erasmus Plus nach Paris geht.
Es sind die Frontex-Mitarbeiter, die zum dritten Mal in dieser Woche auf denselben Rücken einschlagen.
Es sind die Nachbarn, die der jungen polnischen Mutter im Nachbarschaftstreff „Happy Birthday“ singen und „Sto lat, sto lat, niech żyje, żyje nam“ und gleich noch ein Lied auf Spanisch und eins auf Italienisch, kann ja nicht schaden, sollen ruhig alle hören, wie weltgewandt sie doch sind. Es sind dieselben Nachbarn, die ihr am nächsten Tag sagen, wie sie ihr Kind zu erziehen hat – denn so geht’s ja nun wirklich nicht – und dass sie hier schließlich nicht in der Walachei ist. Es sind dieselben, die nach einem halben Jahr sagen werden: „Na also an uns lag’s jedenfalls nicht.“
Es ist der international gefeierte Künstler, der Maler, dessen Werke im Centre Pompidou, im Guggenheim, in der Tate Gallery hängen und der, gefragt nach seinen den Inspirationen, nach seiner künstlerischen Erweckung, eine Stadteilbibliothek im Hasenbergl nennt.
Es ist der geflüchtete Elektroingenieur, der all seine Scheine und Zeugnisse auf dem Couchtisch ausbreitet, gestempelt von der besten Universität seines Landes, die im Übrigen auch international einen hervorragenden Ruf genießt. Der auch das Arbeitszeugnis noch holt, auf Siemenspapier. Der dich anschaut und fragt: Warum denn nicht wenigstens als Elektriker?
Es sind die Bretonen, die Friesen, die Moliseslawen, die Sprachkurse anbieten, Lieder übersetzen, Verlage gründen. Es ist die Autorin, die deshalb den Mut fasst, in ihrer Muttersprache zu schreiben.
Es ist die bulgarische Mutter, die nachts in München am Bahnhofskiosk steht, ein Kinderfoto zeigt und fragt: „Was mag eine Siebenjährige?“ Die Mutter, die zehn Kinderzeitschriften kauft von ihrem Pflegerinnenlohn, nur weil dieses Plastikspielzeug dabei ist, und weil deutsche Zeitschriften eben einen Wert haben in bulgarischen Dörfern. Und noch eine und noch eine und die mit dem Zauberstab bitte noch, und als sie in den Zug steigt, da hat sie den Lohn eines halben Tages ausgegeben, aber dafür trägt das schlechte Gewissen jetzt eine Maske aus rosafarbenen Glitzersternen. Europamütter werden Mütter wie sie genannt, dort in Bulgarien. Ihre Tochter wartet auf das verlängerte Wochenende seit einem Dreivierteljahr.
Es ist ein Versprechen, das noch nicht eingelöst ist.