Das Problem ist bald so alt wie die Menschheit selbst, und es bleibt zu hoffen, dass die Salonfähigkeit endgültig beerdigt wird, die Angst vor dem Fremden in uns überwunden werden kann.
Der Wolf und die sieben Geißlein
oder Alice im Wunderland
In reich-lich bürgerlicher Idylle lebte einmal eine Ziege namens Alice mit ihren sieben Geißlein: Bavaria, Teuto, Saxonia, … egal! Als sie Einkäufe zu erledigen hatte, und ihre Kinder allein zu Hause lassen gedachte, warnte sie jene zuvor:
»Seid auf der Hut vor dem bösen Wolf. Er verstellt sich oft und ist Teil der ›perfiden Kriegsstrategie‹ unser Land einem Bevölkerungsaustausch zu unterziehen. ›Der Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form‹. Er verkleidet sich und täuscht, ihr erkennt ihn an der Aussprache und seiner dunklen Haut! Lasst ihn in keinem Fall herein und haltet das Haus in jedem Fall gut verschlossen. Dann bring ich euch von meiner Shoppingtour etwas mit.«
»Ich will ein neues Auto!«, rief die älteste Geiß. »Ich ein Kleid« die Nächste, und so riefen sie durcheinander, bis Alice zusagte, jedem die dringend benötigten Dinge zu verschaffen, und die Kinder der Muttergeiß versprachen, das Haus derweil rein zu halten.
»Und denkt daran, handelt stets danach: ›getroffene Wölfe bellen!«, und sie verabschiedete sich.
Nicht lange nachdem die Alte aufgebrochen war, klopfte es an die Tür und der ›Wolf‹ bat um Einlass: »Ik suchen waRm und hamham!«
»Meck meck«, antwortete die älteste Ziege, »Du kommst hier nicht rein, du willst uns nur berauben und verjagen, dann müssen wir unter der Brücke schlafen und habe nichts mehr zu essen.« Und ihre Schwester rief dem ›Wolf‹ hinterher: »Meck, meck. Lern erstmal richtig unsere Sprache, bevor – Ansprüche – du – stellen – tust!«
Daraufhin suchte der Wolf das Sprachinstitut ›Krämer‹ auf und büffelte fleißig bis zum Niveau B-plus-plus. Bei ›Krämer‹ beruhigten sie ihn, die Ressentiments seien in der Bevölkerung nicht weit verbreitet. Vielmehr handle es sich um das Grassieren von Verschwörungstheorien, die in der fragmentierten Öffentlichkeit des Internets in Echoblasen entstünden, die aber niemand ernsthaft glaube. Der antipluralistische Populismus fände die benötigte Vereinfachung im inkonsistenten Feindbild ›Volk‹ gegen ›Elite‹ und untermale dies mit Nostalgie. Diese Phase ginge vorüber.
Derartig gerüstet, nahm der ›Wolf‹ einen zweiten Anlauf:
»Guten Tag liebe Geißlein«, begann er, nachdem er geklingelt hatte. »Ich ersuche höflichst um Asyl und den nötigsten Schutz, da in meinem Land Krieg herrscht. Internationale Interessenparteien kämpfen um Ressourcen für ihre Industrien und strategische Ausgangspositionen, um sich für den Niedergang des kapitalfaschistischen Zeitalters zu wappnen. Viele in meiner Familie leben nicht mehr und ich kann nachts nicht mehr ohne Alpträume schlafen. Bitte gebt mir etwas zu essen und vielleicht habt ihr ja einen Platz, wo ich mein müdes Haupt zur Ruhe betten kann.«
Verunsichert hielten die Geißlein inne und beratschlagten sich.
»Das ist eine groß angelegte Verschwörung, genau wie Mutter uns gewarnt hat.« »Genau! ›die Widersacher […] arbeiten in Nahtstellen, die den meisten Leuten unbekannt sind.«
»Dies ist nur ›ein Schatten des wirklichen Geschehens.‹ Wir dürfen auf keinen Fall öffnen. Das jüngste Geißlein hüpfte herum und skandierte »die Verschwörung, die Verschwörung. Alarm! Die Hirten planen einen Ziegenaustausch auf den Weiden. Wir müssen dem Establishment Paroli bieten.« Die älteste Schwesterziege pflichtete ihr bei:
»Sie haben die Macht, noch! Und Macht generiert Wissen, da sie Wahrheit definiert. Es gibt keine ideologiefreie Erkenntnis, wir fallen nicht darauf herein. Stell dich vor den Türspion und zeige und deine Pfote.«
Als die Ziegenkinder schließlich durch das Guckloch spähten und den in seiner Landestracht gekleideten Fremden erblickten, schickten sie ihn fort:
»Du siehst ganz anders aus als wir, vor allem das dunkle Fell, das geht gar nicht!« Da wandte sich der ›Wolf‹ an die Schneiderfirma ›Bäcker‹ und ließ sich einen weißen Anzug anfertigen. Beim Frisör ›Müller‹ bat er, ihm die Haare zu färben, doch die Frisörin ward misstrauisch und weigerte sich zunächst ihn zu bedienen. Erst als der ›Wolf‹ drohte, Anzeige zu erstatten, willigte sie ein, ihn zu blondieren.
Als der ›Wolf‹ nun um Aufnahme bat, öffnete man ihm ohne Zögern. Denn die Zicklein hielten ihn in seinem Anzug wegen der blauen Kontaktlinsen, die er sich besorgt hatte, und der blonden Haare für einen der Ihren. Erleichtert aß und trank der ›Wolf‹ die angebotenen Speisen, nur das Schweinefleisch lehnte er dankend ab. Alsdann legte er sich auf das ihm zugewiesene Sofa. Erschöpft schlief er ein und begann zu schnarchen. Da beäugten ihn die Zicklein misstrauisch und bewaffneten sich mit Messern und Seilen. Just in diesem Moment kam die Mutterziege Alice nach Hause. Flüsternd erfragte sie, was es mit Fremden auf sich habe, ergriff eine Schere und schlich sich an den Schlafenden heran. Vorsichtig schnitt sie in einen Ärmel des weißen Anzugs: Dunkles Fell quoll hervor. Da schrie das jüngste Zicklein: »Die Verschwörung, die Verschwörung!«, so dass der Wolf aus seinem Schlummer auffuhr. Da stach die Mutter zu, ungläubig blickte der Wolf auf seinen Leib, als das Blut den Anzug rot färbte:
»Was rumpelt und pumpelt in meinen Bauch?«, presste er noch hervor, Alice schrie »getroffene Wölfe bellen« und die anderen Zicklein stürzten sich auf ihn. Schrill heulte der Wolf auf, Sekunden später kehrte Stille ein.
Ein einsames »Meck meck« ertönte zur Abstimmung, als sie den leblosen Körper in Folie wickelten und mit Steinen beschwerten. Des Nachts bei Fackelschein versenkten sie ihn im Brunnen der nahen Schlossruine und tanzten um die Ummauerung, sich bei den Händen fassend und singend: »Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!«, als ob es nur eine Herde und keine Rudel gäbe.
Interessant und polarisieren. Aber nur ein Märchen, wenn auch mit Wahrheitsgehalt.
Es lohnt sich, darüber nachzudenken und die Fakten zu checken.