Wir haben das Reisen im Blut. Ein längerer ununterbrochener Aufenthalt zuhause verursacht uns einen zunehmenden Leidensdruck. Wir wollen in die Ferne reisen, können aber nicht. Mit tränenerstickter Stimme sprechen wir von Palmenstränden, Bergtouren und an unser Herz gewachsene Autobahnraststätten mit Selbstbedienung und Münzautomaten beim Einlass zu den Waschräumen. Manchmal sitzen wir nur unbewegt da und starren in die Ferne, die sich hinter der Wandtapete bis in die Unendlichkeit erstreckt. Hinzu kommen mit der Zeit immer mehr körperliche Beschwerden: der Blutdruck gerät durcheinander, es juckt und zwickt mal hier, mal dort, und vor allem bei mir gibt es manchmal Anfälle von Schlafwandeln, bei denen ich vom Waten im Meer bei Ebbe und Sonnenaufgang träume.
Nun liegt unsere Reise nach Dubai bereits fast einen ganzen Monat zurück und schon spüren wir wieder das Fernweh, die Sehnsucht nach exotischen Ländern, fremden Kulturen und seltenen Infektionskrankheiten. Letztere wollen wir natürlich nicht am eigenen Leib erfahren, sondern die Gewissheit geniessen, dass wir trotz abenteuerlicher Ausflüge in abgelegene Gegenden, gesund bleiben und uns nichts dergleichen einfangen.
Der innere Druck, der auf uns wegen dem anhaltenden Daheimbleiben lastet, hat inzwischen groteske Ausmasse angenommen. Das führte zu teils bedenklichen Änderungen in unserem normalen Verhalten. Meine Frau legte ihren geliebten Liebesroman aus der Hand und blätterte nur noch in abgelaufenen Reiseprospekten. Ich wiederum schaute mir stundenlang Fotos von den letztmaligen Reisen an, um wenigsten so den Geschmack der weiten Welt wiederaufleben zu lassen. Aber das alles half nichts, nicht einmal das regelmässige Schnuppern in unseren Reisenessessärs oder das Umarmen der leeren Hartschalenkoffer.
Wir sind uns natürlich bewusst, dass aufgrund der vorherrschenden Pandemie und den überall in Kraft getretenen Restriktionen, an längere Reisen nicht zu denken ist. Und mit längeren Reisen meine ich alles, was über die Fussmatte vor unserer Haustür hinausgeht. Wir dürfen uns nur innerhalb unserer Wohnung frei bewegen und all die anderen, verlockenden Reiseziele, die es da draussen gibt, sind entweder unerreichbar oder benötigen das Vorlegen verschiedenster Gesundheitszeugnisse und Beweise für absolute Dringlichkeit. Natürlich haben wir nichts dergleichen vorzuweisen.
Und dann war es plötzlich soweit. Vorgestern am Frühnachmittag sind bei uns alle Geduldsfäden gerissen und wir sind zu unserer nächsten Reise aufgebrochen. Wir hatten diesmal keine langen Planungen gemacht und auch nur das nötigste eingepackt, um für die mehrstündige Abwesenheit aus den gewohnten Verhältnissen gewappnet zu sein. Ich nahm nur meinen Rucksack mit dem Nötigsten mit, meine Frau eine Reisetasche und ihren unentbehrlichen Schminkkoffer. Diesmal wollten wir auch nicht alle Etappen minutiös vorausplanen wie ehedem – nein, mit der Entschlossenheit erfahrener Globetrotter bekundeten wir unsere Absicht, diesmal zu improvisieren und uns von den aufkommenden Ereignissen und Begegnungen tragen zu lassen.
«Was soll uns schon Schlimmes passieren?», sagte ich rhetorisch fragend zu meiner abreisefertigen Ehefrau, «Ich habe die Trillerpfeife bei mir und genügend Taschentücher eingepackt».
«Und den Grundriss?» fragte, sie in einer Mischung aus Reisefieber und Besorgnis.
«Hab ich Darling, sogar mit eingezeichneten Wasserhähnen und Lichtschaltern».
Dann brachen wir frohgemut auf. Als Erstes unternahmen wir eine halbstündige Wanderung auf der Terrasse. Für einmal genossen wir endlich die Frischluft und den fahlen Sonnenschein, der unser Mehrfamilienhaus am Nachmittag von Westen her beleuchtet. Mit Grundriss und Kompass in der Hand fand ich ganz leicht den Weg um den Gasgrill herum, dann marschierten wir den Schlangenpfad zwischen den Blumenkübeln entlang und machten kurz Rast neben dem Wasserhahn, von dem ich den Bewässerungsschlauch abgezogen hatte. Dergestalt konnten wir unsere Feldflaschen wieder auffüllen, um für den Rest der Abenteuerreise genügend Wasserreserven zu haben.
Wir hielten zwischen den Stängeln nach den Tieren des Waldes Ausschau, aber sie müssen sich bis in die hintersten Ginsterbüsche zurückgezogen haben. Keine Spur von Schnecken, Käfern oder anderen Kreaturen. Auch von Eingeborenen war nichts zu sehen, so dass wir unverrichteter Dinge abzogen. Manchmal muss man halt auf folkloristische Darbietungen verzichten, was nicht schlimm ist, wenn man bedenkt, dass sie nur extra für Touristen aufgezogen werden. Von Authentizität ist da heutzutage keine Spur.
Nachdem wir alle Winkel der Terrasse erkundet und fotographisch festgehalten hatten, traten wir die zweite Etappe der Reise an und brachen umgehend zum weit abgelegenen Duschbad am anderen Ende des Korridors auf. Diese subtropische Nasszelle ist berühmt für seine Wasserfälle aus den diversen Duschköpfen und den seitlichen Massagedüsen. Anstatt eines geeigneten Reiseprospekts, hatte ich vorausschauenderweise die Gebrauchsanweisung der Dampfduschanlage mitgenommen. So konnten wir die vielen Funktionen live durchprobieren und uns verwöhnen lassen. Verzückt standen wir eine Weile unter der Regendusche und liessen das herrliche Thermalwasser in silbrigen Rinnsalen an uns herunterlaufen. Nebenbei wuschen wir auch noch den Staub aus unseren Haaren, der sich während der vorherigen Wanderung auf der Terrasse angesammelt hatte.
Nach so vielen Sehenswürdigkeiten und aufregenden Reiseerlebnissen war es dann Zeit für die erste Übernachtung. Nach einer kurzen Mahlzeit mit den mitgebrachten, belegten Broten, die wir – kurz vor dem Aufbruch – auf dem Boden des Duschwanne hockend, verspeist hatten, schlugen wir unser Zelt im Korridor auf und breiteten die Schlafsäcke auf dem einladend glänzenden Parkettboden aus. Die kleine Petroleumlampe verbreitete ein heimeliges, warmes Licht und liess in uns Gefühle von Prärieeinsamkeit und windgepeitschter Steppenweite aufkommen. Die Nacht verlief relativ ungestört, wenngleich wir sehr wohl die Härte des Untergrundes voll zu spüren bekamen. Aber ohne gewisse Kompromisse beim Komfort kommt man in der Welt nicht herum. Noch vor dem Einschlafen stellten wir uns den tiefschwarzen, sternengesprenkelten Himmel über unserem Obdach vor, so wie wir ihn von tropischen Breitengraden her kannten; oben links Orion, rechts über dem Fussende das Hohlkreuz des Südens. Aber lange konnten wir den Anblick des Zeltdachs von Innen nicht bewundern, denn der monotone Klang des unweit von uns rauf- und runterfahrenden Aufzugs begleitete uns bis in den Schlaf, jenen erquickenden Schlummer, den erschöpfte Wandersleute nach einem anstrengenden Tagesmarsch durchleben.
Am nächsten Morgen durften wir die Segnungen der Zivilisation im grossen Badezimmer in Anspruch nehmen, wo wir fröhlich sprudelnde Quellen für fliessend kaltes und warmes Wasser vorfanden. Es war sogar Flüssigseife in einem eigens für die Ankömmlinge hingestellten Spender vorhanden. Man muss nur wissen, wie man es auf Abenteuerreisen anstellt, auf einen gewissen Luxus nicht verzichten zu müssen. Hier konnten wir uns, von anderen Reisenden ungestört, für den zweiten Reisetag frischmachen. Dann stand der Höhepunkt unseres Ausflugs bevor, worauf wir uns sorgfältig vorbereiteten: auf die Safari mit ausgiebiger Mottenjagd im Kleiderschrank.
Die Anreise zum Schlafzimmer gestaltete sich schwieriger als erwartet. Wir verfehlten mehrere Male die richtige Zimmertür und landeten stattdessen in der Waschküche, wo wir ziemlich viel Zeit mit der Suche nach dem Rückweg zum Korridor vergeudeten. Aber es reichte noch, zumal die Motten insbesondere zur Abendstunde aus den Kleiderfalten hervorzukriechen pflegen und so leichter auffindbar sind. Und dann standen wir plötzlich davor: die Tür zur Ankleide in ihrer ganzen Pracht! Mit einer eleganten Handbewegung gelang es meiner Frau, die Tür aufzumachen und schon fiel unser Blick auf den grossen Wäscheschrank mit ihren unerschöpflichen Jagdgründen.
Wir richteten am Fusse der mächtigen, sechstürigen Schrankwand unser Basislager ein und schauten hinauf zu den steil herabhängenden Kleidern – bis ganz oben hinauf, zur im Hochnebel gerade noch sichtbar gestapelten Bettwäsche. Und da waren sie schon, unsere potenziellen Trophäen, die sich nichtsahnend auf einer Bügelfalte zum freundlichen Meinungsaustausch versammelt hatten. Während meine Frau die Aktion filmte, schlug ich mit beiden Händen nach den alarmiert davonstiebenden Flatterern, von denen ich bereits beim ersten Streich fünf erlegen konnte. Weitere zwölf Textilfeinschmecker musste ihr Leben unter den gnadenlosen Schlägen mit dem linken Hauspantoffel aushauchen, den ich beherzt ergriffen und mit grosser Kunstfertigkeit als Schlagwaffe einsetzte. Hierbei konnte ich meine überlegene, rechte Vorhand einsetzen und auch die etwas weniger wirksame Rückhand profitierte noch von meinen jüngst erworbenen Erfahrungen. In spiraligen Kreisen stürzten die erlegten Insekten den Steilhang herunter und wurden unter Jagdhornklängen von meiner Frau nach Grösse sortiert nebeneinander aufgereiht.
Die oberen Ablagen waren nicht einmal auf den Zehenspitzen stehend erreichbar. Deshalb gürteten wir unsere mitgebrachten Seile fester und ich hangelte mich an den provisorisch ins Holz geschlagenen Haken und Ösen nach oben. Mit alpinistischer Gewandtheit straffte ich mein Seil und suchte die besten Haltepunkte auf dem beschwerlichen Weg zum Gipfel. In der senkrechten Schranknordwand hängend, konnte ich nur noch mit einem Arm nach den Schädlingen ausholen. Mehrmals musste ich meine von unten besorgt zu mir hochblickende Frau um mehr Seil bitten, denn nur so konnte ich mich in die beste Schussposition bringen. Dann wuchtete ich mich einen ganzen Meter höher, nachdem ich mit dem rechten Fuss einen festen Halt auf der Kleiderstange gefunden hatte. Leider löste sich dabei eine Lawine von lose auf Kleiderbügeln hängenden Wintermänteln, so dass meine Frau zur Seite springen und den Sicherungsseil loslassen musste. Ich konnte mich gerade noch mit der freien Hand am Tablar festhalten, sonst wäre ich noch in die gähnende Tiefe gestürzt. Nach kurzer Überprüfung meiner Kletterausrüstung setzte ich den Aufstieg fort. Die Überlebenden der bisherigen Jagdpartie hatten sich bis dort oben, bei den Hutschachteln jenseits der Kleidergrenze zurückgezogen, aber ich war ihnen dicht auf den Fersen.
Beim obersten Tablar in zweifach gesicherter Position angekommen, konnte ich für einen Moment den freien Blick über das gesamte Panorama des Schlafzimmers geniessen. Da aber hatte ich wieder eine freie Hand, um mit den mitgebrachten Mottenkugeln nach den auseinanderstiebenden Biestern zu werfen. Leider hatte ich die andere Hand nicht frei, um die Höhepunkte dieser denkwürdigen Grosswildjagd fotographisch festhalten zu können. Aber noch vor dem nicht ungefährlichen Abstieg in die Niederungen der Schubladenebene, konnte ich mir wenigstens eine weidmännisch erlegte Motte einstecken – gewissermassen als Erinnerung an diese denkwürdige Safari. Ich weiss noch nicht, ob ich nur ihren antennenbewehrten Kopf ans Brett nageln, oder gleich den ganzen Leib ausstopfen und in Epoxidharz einschliessen soll.
Für die Rückkehr von der Reise hatten wir keine konkreten Pläne gemacht. Wir schlossen den entmotteten Kleiderschrank wieder, schulterten unser Reisgepäck und wanderten über Korridor und Diele bis ins Wohnzimmer. Heil und glücklich angekommen, warfen wir uns erschöpft aufs Sofa, verschnauften ein wenig und begannen anschliessend unsere Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Nichts ist so herrlich wie die frischen Erinnerungen gleich nach dem Erlebten durchzunehmen, während man die Strapazen der Reise in den Knochen spürt. Dann hat man erst recht was davon.
Zunächst wagte ich noch gar nicht darüber zu sprechen, aber im Stillen hatte ich mir bereits Gedanken über unsere nächste Abenteuerreise gemacht. Nun war die Zeit gekommen, damit herauszurücken. In den wärmsten Farben des reiseerfahrenen Weltmannes schilderte ich meiner Frau die zu erwartenden Höhepunkte der nächsten Abenteuerreise: ein mehrtägiger Aufenthalt mit Halbpension in der Tiefgarage und mittels kundiger Reiseleitung geführten Tagesausflügen zum Kellerverschlag und in die Besenkammer.
Name der Autorin/des Autors
Peter Biro
Auf Safari im Kleiderschrank