Bergzeit
Still ist die Büroetage, nachdem auch die letzten meiner Mitarbeiter Feierabend gemacht haben. Ich nutze diesen unbeobachteten Moment, um den Kopf in die Hände zu stützen – meine erste Pause an diesem Tag. Seit einigen Wochen fühle ich mich so ungewohnt müde. Kaum etwas spüre ich von meinem üblichen Elan.
Aber daran ist aktuell nichts zu ändern. Sobald ich Zeit dazu habe, sollte ich zum Arzt gehen. Jetzt gilt es, die aufgelaufene Arbeit zu erledigen. Der Bericht an den Vorstand ist abzuschließen, was keinen Aufschub duldet.
Möglicherweise könnte jedoch ein weiterer Kaffee helfen. Ich erhebe mich aus meinem Bürosessel … und erstarre in der Bewegung, als sich das leichte Druckgefühl in meiner Brust unvermittelt in einen brennenden Schmerz verwandelt, der auch in meine Schultern kriecht. Kalter Schweiß bricht aus, als ich in plötzlichem Bewusstsein meiner Sterblichkeit in den Sessel zurücksinke, als sich die Zeit ins Endlose auszudehnen scheint, bevor es dunkel um mich wird …
Abrupt bleibe ich stehen. Gerade noch bin ich auf einem der empfohlenen Spaziergänge gedankenversunken über kiesige Wege und herbstliche Wiesen geschritten und habe die letzten Monate nach dem Herzinfarkt Revue passieren lassen: das angstvolle Erwachen aus der Bewusstlosigkeit; die Wochen der Rehabilitation mit dem qualvollen Gefühl, zur Untätigkeit verdammt zu sein; und auch die ungewohnte Dankbarkeit meiner Sekretärin gegenüber, die aufgrund eines mulmigen Gefühls zurückgekommen war und mich in meinem Sessel gefunden hatte. Die Ärzte der Rehaklinik hatten mir dann noch weitere Entspannungszeit angeraten – zum Beispiel hier auf dem Vigiljoch.
So bin ich denn beim Schlendern über Wiesen und durch lichte Nadelwälder an eine Lücke gekommen, die unvermittelt den Blick auf das Vigiliuskirchlein freigibt. Klein ist der grausteinerne Bau, und irgendwie von seltsamer Proportion. Wie ein drohender Zeigefinger ragt der scheinbar übergroße Turm in den blauen Himmel. Unwillkürlich gemahnt er mich an den Demutsglauben meiner Kindheit, dessentwegen ich aus der Kirche ausgetreten bin – der Zwang zu einer gottgefälligen Lebenszeit, für die man im Nachhinein im Jenseits belohnt wird. Mein Herz schlägt schneller, und beunruhigt nehme ich ein leichtes Druckgefühl in der Brust wahr. Ich atme bemüht tief und langsam und mache mich auf den Rückweg.
Zurück im Hotel stöbere ich in der Gästebibliothek. Neben Romanen und Anthologien fällt mir ein Buch mit dem vielversprechenden Titel „Die Illusion der Zeit“ auf. Autor ist allerdings nicht Einstein. Trotzdem neugierig geworden, nehme ich das Buch mit aufs Zimmer. Als ich es mir dort genauer anschaue, finde ich, dass es sich auf ein „großes spirituelles Lehrwerk unserer Zeit“ beziehe. Verärgert werfe ich es in eine Couchecke. Entspannen will ich mich! Und finde mich nicht nur mit den Schatten meiner Kindheit konfrontiert, sondern auch noch mit esoterischem Unfug! Tief atme ich ein und widme mich den finsteren Pfaden einer Anthologie mit mittelalterlichen Horrorgeschichten.
Ein neuer Tag, ein neuer Spaziergang über das herbstlich gefärbte Vigiljoch. Ich nähere mich einem Kiosk, der meiner durstigen Kehle Linderung verspricht. Eine Kleinfamilie steht an der Kasse und scheint in heftige Diskussion vertieft. Weiterhin auf der Suche nach Ruhe halte ich mich etwas zurück.
„Ich will ein Eis! Jetzt!“, kräht der etwa fünfjährige Junge plötzlich los. Die Mutter beugt sich zu ihm hinab und redet vergeblich auf ihn ein, um ihn zu beschwichtigen.
In mir startet ein weiterer Film zu meiner Kindheit. Ich erinnere mich an einen Jungen, der wie jener Bub sein Eis auch immer sofort wollte. Später den teuren Porsche. Dann die fast unbezahlbare Villa. Dabei immer längere Wochenarbeitszeit. Und dann ein abschließender Vorstandsbericht …
Ich fühle mich wie betäubt und merke kaum, wie die erworbene Limonade meine Kehle befeuchtet.
Ich kann nicht schlafen, und im Morgengrauen breche ich zu einem weiteren Spaziergang auf. In den Tälern zwischen den Hügeln hängt noch träger Nebel.
Auf einer von Wäldern fast eingeschlossenen Wiese erkenne ich zwei hoch aufragende Ohren. Ein Hase! Ich habe kleine Pelztiere immer gemocht, aber mir schon lange nicht mehr die Zeit genommen, eines zu beobachten. Ich gehe in die Knie, um ihn nicht zu erschrecken.
Trotzdem richtet er sich nach Kurzem witternd auf, und bald sehe ich den Grund. Aus dem nahen Gehölz pirscht sich ein Fuchs an, der mich in meiner Haltung ebenfalls nicht bemerkt hat.
Der Räuber setzt zum Lauf an, und der Hase zur Flucht. In mir spüre ich Zwiespalt: Auch der Fuchs hat ein Recht auf Leben. Jedoch, irgendwie habe ich den Hasen in der kurzen Beobachtungszeit liebgewonnen.
Ich richte mich zu voller Größe auf. Beide Tiere verharren. Raschen Schrittes bewege ich mich auf den Fuchs zu, wobei ich wild mit den Armen gestikuliere. Mit irgendwie beleidigtem Blick dreht er ab und schnürt wieder in Richtung Wald.
Ich begebe mich erneut in die Hocke, und auch der Hase kommt etliche Meter von mir entfernt zur Ruhe. Nach kurzem Sichern in meine Richtung frisst er friedlich weiter. Eine kleine Weile später beginnt er, auf einem Blatt rötlichen Herbstlaubes zu kauen, das zu beiden Seiten seines Mauls absteht, und ich kann mir ob dieses Anblicks ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Ich beobachte ihn noch lange, während die Sonne langsam steigt, bis er gemächlich davonhoppelt.
Gerade dem Tod entronnen, und gleich wieder die Ruhe selbst – welch ein Leben, denke ich ein bisschen neidisch und wünsche mir, ein paar Erinnerungen ebenso leicht loslassen zu können.
Wieder stoße ich bei meinem heutigen Spaziergang auf einen der hiesigen Waalwege. Das Plätschern des Wassers beruhigt mich, und ich verweile. Ein bisschen erinnert mich dieser Ort an eine der Geschichten, die ich im Hotelzimmer gelesen habe und die von einem jungen Mönch im von der Pest heimgesuchten mittelalterlichen Italien handelt, der sich regelmäßig an einem möglicherweise ganz ähnlichen Wasserlauf zur Meditation niederlässt.
Indem ich meine Wahrnehmung auf das Bachplätschern und die Vogelstimmen um mich fokussiere, gelingt es auch mir, noch mehr zur Ruhe zu kommen. Weit entfernt bin ich von der Versenkungstiefe jenes fiktiven Mönchs – doch mein Herz genießt die zunehmende Stille.
Wieder ein neuer Tag, und ein weiterer Spaziergang durch das herbstliche Rot des Vigiljochs – dessen Ziel ich diesmal jedoch kenne.
Hoch ragt der mahnende Zeigefinger des Kirchleins über mir auf. Ich fasse mir ein Herz, atme tief durch, dann trete ich ein. Ruhe umfängt mich, ein bisschen unerwartet. Kein Donner zur Begrüßung des Abtrünnigen. Ich nehme Platz auf einer der Bänke und versuche, mich an das entspannende Wassergeräusch vom Vortag zu erinnern. Nach einer Weile erscheinen meine Eltern vor meinem inneren Auge, und ich bekomme ein erstes vages Gefühl, was sie in ihrem Glauben gefunden haben mögen.
Erst eine Stunde später verlasse ich die Kirche wieder – und ich weiß, dass ich wiederkommen werde, um dieses zarte Gefühl von Frieden und Verbundenheit zu vertiefen.
Abends im Hotelzimmer lege ich die mittelalterlichen Horrorgeschichten beiseite und hole stattdessen „Die Illusion der Zeit“ aus der Couchecke, um darin zu lesen. In mir spüre ich eine zunehmende Neugier herauszufinden, was es mit der Aussage auf dem Buchrücken auf sich hat, dass „die Zeit sich nicht in die Ewigkeit eindrängen kann“.
(Erstveröffentlichung beim Literaturpodium in der Anthologie „Helle Herbstlichter. Erzählungen und Gedichte“, 2017)