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Der Schneekönig

Petra Ina Lang

„Ich fahr da nicht mit, was soll ich da?“

Nikolai riss sich von seinem Bruder los, der ihn festhielt und zu Boden riss. Dabei war Andre der kleine Bruder. Aber er war stark und größer als Nikolai.

„Du weißt genau, wie ich Schnee hasse! Nie wieder fahre ich irgendwohin, wo Schnee ist!“

„Aber das ist doch was ganz anderes, da sind keine Berge, keine Lawinen. Mann, weißt du, wie schön es da ist? Haha, wir fahren zur Schneekönigin, zur Schneekönigin!“

Nikolais Bruder tanzte um den am Boden liegenden Bruder und lachte ihn aus.

Es waren nur zehn Minuten gewesen, aber Nikolai war es wie Stunden, wie Tage vorgekommen, als er in die Lawine geraten war. Licht aus, Dunkel, wo war oben, wo unten? Er hatte sich vorwärts gegraben. Die Handschuhe waren weg. Er kratzte und strampelte. Zum Glück war ein Loch im Schnee gewesen. Er konnte atmen und sich mit den Knien Platz verschaffen im Eis. Ruhe, Ruhe, keuchte er, aber schon wurde die Luft knapp, und er kratzte sich vorwärts. Egal, er musste voran, und wenn er sich noch tiefer eingrub? Weiter! Er war auf dem richtigen Weg, hinauf zum Licht, zur Luft, weiter! Bloß nicht aufgeben!

So hatte er gegraben und hatte sich die Finger blutig gerissen an diesem vereisten Schnee. Es hatte zu regnen angefangen, und dann war da dieser Ton gewesen, dieses Ächzen, Stöhnen, und schon hatte die Lawine ihn mitgerissen. Und dann hatte er keinen Widerstand mehr gespürt, hatte ins Nichts gegriffen. Und das Nichts war die Rettung gewesen, ganz allein hatte er sich herausgearbeitet, ans Licht, an die Luft.

„Was willst du denn, das Bisschen Schnee“, rief Andre, „Mach dich nicht so wichtig, bist doch nur in ein Schneeloch gerutscht.“

Nikolai rappelte sich wieder hoch. Da fing sein Bruder noch einmal an:

„Wir fahren in den Schnee, wir fahren in den Schnee und werden Eisbären sehen und Robben und Pinguine.“

„Blödmann“, rief da Nikolai, „Pinguine!“

„Doch, die haben da jetzt auch Pinguine im Norden und Seehunde und Robben und Walrosse. Riesige Mengen!“

Nikolai hasste Robben und Walrösser erst recht, diese fetten widerlichen Viecher. Es schüttelte ihn. Aber der kleine Bruder hörte nicht auf.

„Wenn wir zum Nordpol wandern, hast du keinen Boden unter dir, nur etwa 2000 Meter dickes Eis- und darunter das Meer. Der Nordpol, da ist überall gefrorenes Meer. Nichts unter dir als Eis und Wasser und Wasser und Eis“, rief Andre und machte Schwimmbewegungen durch die Luft, um klar zu zeigen, wie bodenlos das Ganze dort war.

„Ich fahr da nicht mit!“ wiederholte Nikolai, „selbst wenn ich Kopfrechnen mit Brüchen könnte. Nie!“

Aber der kleine Bruder ließ nicht locker.

„Du hast Schiss, du bist feige. Haha, ich setzt da noch eins drauf. Nicht im Sommer fahren wir da hin, nein. Das wäre ja easy. Im Sommer scheint da 24 Stunden am Tag die Sonne. Pfui Teufel!“

Andre wusste, wie sehr sein Bruder den Sommer liebte, Spaziergänge im Wald unter dichten Bäumen, bloß kein Strand oder Meeresrauschen. Nein, er liebte den Wald, den dunklen warmen Sommerwald.

„Im Winter hast du am Nordpol höchstens um Mittag herum Dämmerungslicht. Das müsste dir doch gefallen, Bruder!“, sagte Andre. „Den restlichen Tag ist es stockfinster!“

Nikolai blieb stehen wie ein Stock.

Er sah die Eisbären vor sich und die Walrösser. Ganz hinten wohnte die Schneekönigin in ihrem Palast und hatte Kay in ihrer Gewalt. Der lebte in einem kalten Traum.

Nikolai sah sich, wie er zum Schloss der Schneekönigin läuft, durch hunderte leere kalte Eissäle geht, alle von kaltem Nordlicht erhellt. Im größten Saal, der mehrere Meilen lang war, war der Thron der Königin. Nikolai war fast schwarz gefroren vor Kälte. Aber er spürte nichts und versuchte vergeblich, das Wort „Ewigkeit“ in das Eis zu schreiben. Jemand hatte ihm zugeflüstert, wenn er das schaffen würde, würde er sein eigener Herr werden und ihm würde die ganze Welt geschenkt werden. Nikolai weiß aber nicht, wie er es schaffen soll. So ritzte er ständig rätselhafte Muster ins Eis.

Nikolai schaute hoch.

„Du weißt doch genau, dass ich nicht in ein einfaches Schneeloch gefallen bin.“

Und während Nikolai so dastand und das Glitzern des Eises vor sich sah und die Robben auf Eisschollen dahinschwimmen sah und kleine Eisbären entdeckte und tatsächlich sogar Pinguine, wahrhaftig, da war es ihm, als hätte ihm einer einen Pfropf aus der Brust gezogen.

Andre schaute ihn von der Seite an, und als er sah, dass sein Bruder einfach dastand, entspannt, sogar lächelte, die Augen nach rechts und links bewegte, als träume er, da setzte er noch eins drauf:“

„Hahaha“, rief Andre, „April, April! Wir fahren gar nicht ins Eismeer!“

Nikolai aber brach weder in Tränen aus noch geriet er in Wut.

Er war in Gedanken, weit weg bei der Eiskönigin aus dem Märchen von Andersen.

„Ich sehe grad, lieber Andre“, sagte er, „wie Gerda, Kays Freundin, zum Palast der Eiskönigin kommt. Ich sehe, wie Gerda ihn findet. Kay erkennt sie nicht einmal. Gerda weint um ihn und die heißen Tränen lassen sein Eisherz schmelzen. Als Kay sie nun erkennt, bricht auch er in Tränen aus, so dass der Splitter aus seinem Auge rollt. Von selbst erscheint das Wort ‚Ewigkeit‘ und die beiden können davonziehen.

Als sie schließlich zu Hause ankommen, sind sie erwachsen geworden.“

„Das ist schön, Bruder!“, sagte Andre, „du Schneekönig! Sag, kennst du den letzten Satz vom Märchen? Der geht so:“

Und Andre sagte ihn auf mit einer etwas piepsigen Stimme wie ihn Neunjährige haben:

„Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen, und es war Sommer, warmer herrlicher Sommer!“

Name der Autorin/des Autors
Petra Ina Lang
Der Schneekönig

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