Die Nordsee wird das neue Mittelmeer
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Die Nordsee wird das neue Mittelmeer

Der Blick ins Grüne von meinem Büro aus tut gut, wirkt beruhigend, besänftigend.

Nur kurz kann ich mich daran erfreuen, da klingelt das Telefon. Ein Blick auf das Display verrät mir, dass das Sekretariat am anderen Ende der Leitung ist.

„Gruber hier, was liegt an?“ „Herr Gruber, der Vater des Schülers Papadakis, möchte einen Termin bei Ihnen, am besten sofort. „Ah, der Vater des Schülers Ioannis Papadakis, dem wir eine Sechs wegen unentschuldigten Fernbleibens von einer Prüfung gegeben haben. Moment, ich muss noch einen Blick auf meinen Terminkalender werfen … In einer Stunde, um 11.30 Uhr, kann ich ihn einschieben.“ „Ok, Herr Papadakis kommt in einer Stunde“, teilt mir die Sekretärin abschließend mit.

Ioannis Papadakis war einer der Oberstufenschüler mit der längsten Liste an Fehltagen, sehr häufig auch noch unentschuldigt. Nach Rücksprache mit der Oberstufenbetreuung und den Fachlehrern war es höchste Zeit, ein Zeichen zu setzen, dass es so nicht weitergehen konnte. Die zu spät nachgereichte Entschuldigung für das Versäumnis einer Klausur bot dann den Anlass, die entsprechende Maßnahme, nämlich null Punkte auf die ‚Arbeit‘ zu geben. Eine vorherige Rücksprache mit der MB-Dienststelle ergab, dass wir mit der Maßnahme „auf der sicheren Seite“ seien. Auch ein Anruf in der Rechtsabteilung des Kultusministeriums ergab, dass an den null Punkten „nicht zu rütteln“ sei. Ioannis hatte die Entscheidung akzeptiert, sein Vater offensichtlich nicht.

Zum Gespräch mit Vater Papadakis zog ich die Oberstufenbetreuerin hinzu, denn aus meiner langen Erfahrung als Schulleiter wusste ich, dass das derartige Treffen heikel werden können und es gut ist, wenn man Zeugen hat.

Punkt 11.30 Uhr erscheint Herr Papadakis im gemeinsamen Vorraum von Direktorat, Konrektorat und Sekretariat. Er kommt zusammen mit seiner Frau. Herr Papadakis ist ein kleiner, untersetzter Herr mit hellgrauem Anzug und dunkelblauer Krawatte. Er dürfte knapp 1,70 Meter groß sein. Sein Haar, schwarz und glänzend, wie, man es von Griechen bzw. Griechisch stämmigen erwartet, ist schon etwas schütter geworden, seine Stirn funkelt schweißnass. Seine Frau ist etwa gleich groß, unauffällig, was Kleidung und Aussehen betrifft. Sie sagt außer „Guten Tag“ auch nichts.

Nach der freundlichen gegenseitigen Begrüßung per Handschlag und Vorstellung, nehmen wir Platz am runden Tisch in meinem Büro. Ohne auf eine Gesprächseinleitung meinerseits zu warten, legt Vater Papadakis los: „Herr Direktor, vielen herzlichen Dank, dass Sie mich so kurzfristig empfangen! Ich weiß, das ist nicht selbstverständlich. Ihre Schule hat einen blendenden Ruf und ich weiß, Sie leiten die Schule ganz souverän.“

Diese überragende Freundlichkeit meines Gegenübers lassen bei mir die inneren Alarmglocken läuten. Aus meiner langjährigen Schulleitertätigkeit im Ausland weiß ich, dass Leute aus den Mittelmeeranrainerstaaten nie gleich auf den Punkt kommen, sondern einen erst mit Freundlichkeiten einlullen, bevor es dann knallhart zur Sache geht. Je länger das Vorspiel und je schöner die Komplimente, umso härter und diffiziler die Sache.

Herr Papadakis hatte sich im Übrigen bisher nie um seinen Sohn gekümmert, war immer geschäftlich unterwegs und für uns nicht erreichbar. Es folgen dann noch eine Reihe von weiteren Schmeicheleien und dann sagt Vater Papadakis: „Herr Direktor, es kostet Sie nur einen Federstrich die getroffene Entscheidung zu revidieren. Bitte tun Sie das und verbauen Sie meinem Sohn nicht die Zukunft!“ „Ihrem Sohn wird mit der getroffenen Entscheidung nicht die Zukunft verbaut, sondern er spürt, dass Fehlverhalten auch Konsequenzen nach sich zieht, das ist auch Teil eines Lernprozesses“, entgegne ich. „Sie nehmen die null Punkte nicht zurück?“, faucht Papadakis. „Nein“, sage ich. Da springt er auf wie eine Metallfeder, bei der die Halterung gerissen ist, zerrt seine Frau mit sich und verlässt den Raum, wobei er plärrt „Scheiß Gymnasium, Scheiß Direktor! Ich wende mich direkt ans Ministerium!“

Vierzehn Tage später kam aus dem Ministerium ein Brief, mit der Anweisung, dass dem Schüler Ioannis Papadakis ein Nachtermin für die versäumte Arbeit einzuräumen sei, da man nicht hundertprozentig ausschließen könne, dass das verspätete Einreichen der Entschuldigung auf widrige Umstände zurückzuführen sei, die man dem Schüler nicht anlasten könne.

Name der Autorin/des Autors
Peter Wurzer
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Die Nordsee wird das neue Mittelmeer

6 Kommentare zu „Die Nordsee wird das neue Mittelmeer

  • 3. Mai 2023 um 15:09 Uhr
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    Lieber Peter,

    Du beschreibst in dieser kurzen Geschichte treffend eine Situation, die in leicht abgewandelter Art und Weise jederzeit auch außerhalb einer Schule stattfinden könnte.
    Ohne schriftliche Bestätigung einer mündlichen Zusage einer vorgesetzten Behörde hat man im Zweifelsfall nichts in der Hand. Und gegen Vitamin B steht man oft auf verlorenem Posten. Leider.
    Die Moral von der Geschichte: das Leben ist kein Ponyhof

    LG Marion

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  • 25. April 2023 um 21:50 Uhr
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    Hallo Peter, da ich in einer Schule nebenberuflich tätig bin, habe ich gelernt, eine gerade Linie durchzuziehen. Eine gewisse rote Linie darf nicht übertreten werden! Es müssen Konsequenzen gezogen werden! Dies wird bei der Schule auch so durchgeführt

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  • 25. April 2023 um 17:36 Uhr
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    Irgendwie sind wir Lehrer ja immer die „Schlimmen“, auch wenn wir mit unseren Entscheidungen wirklich das „Beste“ für den Schüler wollen. Recht machen können wir, wenn wir mit unserer Eistellung konsequent bleiben und geradlinig durch unser Lehrerleben gehen wollen, es sowieso niemandem. Das jedenfalls sind meine langjährigen Erfahrungen, selten werden wir von unseren Vorgesetzten oder der über uns stehenden Behörde in unseren Entscheidungen unterstützt
    Gerhard Hopp sen.
    Bonhoeffer Str. 24
    945613 Schönberg

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    • 29. April 2023 um 17:51 Uhr
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      Genau diese Erfahrungen habe ich in meinem Lehrerleben zum Teil auch gemacht.
      Harald

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  • 25. April 2023 um 13:36 Uhr
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    Der Leser erhält auf Grund der detaillierten Schilderung einen guten Einblick in das Lern- und Arbeitsverhalten des Schülers. Die Entscheidung des Direktors zur O- Punkte- Vergabe ist plausibel und fundiert. In die Situation im Direktorat kann man sich lebhaft hineinversetzen. Aber es ist mehr als bedauerlich, ja beschämend, dass das Ministerium dem Direktor in den Rücken fällt und seine Autorität untergräbt.

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  • 25. April 2023 um 10:02 Uhr
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    Hallo Peter
    So und nicht anders entscheiden dann die oberen Entscheider!
    Wie heißt ein alter Spruch: DER FISCH STINKT VOM KOPF HER .
    Liebe Grüße auch an Traudi
    Aloys und Brunhilde

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