Ein kleiner Mann
Immer schon war er ein sehr kleiner Mann. Innen wie außen. Als sehr kleiner Junge lernte er seine sehr kleine Hand zu einer Faust zu ballen. Auch kleine Fäuste können Schaden anrichten, das lernte er bald. Zuerst daheim vor dem Spiegel, wenn er wieder einmal alleine zu Hause war. Er zog dann eine böse Grimasse. Immer und immer wieder. So lange, bis sie so böse aussah, dass er manchmal selbst Angst vor sich hatte. Und er lernte, wenn der Blick aus den kleinen Augen böse genug war, war kein Platz mehr darin für Kummer. Nur Hass passte noch hinein, in das linke und das rechte Auge. Und mit diesem Hass und der kleinen Faust war er stark genug geworden. Die kleine Faust konnte denen, die ihn nicht mochten oder zu ihm sagten, dass er zu klein wäre, alles sagen. Weil er nichts zu verlieren hatte, außer seinen bösen Blick aus den kleinen Augen. Später als die Faust und die Augen und das Eingeübte ihn immer größer und größer machten, obwohl er immer noch ein kleiner Mann war, übte er weiter vor dem Spiegel. Nun übte er Lächeln. Er lächelte in den Spiegel, während seine kleine Faust fast blau wurde vor Anspannung. Doch die durfte niemand mehr sehen. Er lernte, eine Faust zu machen, ohne eine Faust zu machen und dabei zu lächeln ohne eigentlich zu lächeln. Er war gut im Üben. Immer und immer wieder übte er, bis man ihm nur noch das Lächeln glaubte. Das machte ihn erfolgreich und erfolgreicher. Doch er war immer noch ein kleiner Mann. Und er hatte Sehnsucht. Nach seiner Faust, die ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war. Er bedauerte, dass niemand mehr sie kannte. Manchmal sah er sie an und dann schlug er mit ihr auf einen großen, langen Tisch. Doch niemand lobte ihn, wie laut diese kleine Faust auf den Tisch hauen konnte. Niemand hörte auf die kleine Faust. Sie war einfach zu klein und sein Lächeln zu gut geprobt. Und so schlug er eines Tages mit beiden Händen, die zu wütenden kleinen Fäusten geballt waren, auf den langen Tisch. Laut genug, dass man ihn weit, weit hörte. Und wieder lobte ihn niemand. Der laute Schall der beiden Fäuste breitete sich aus und wurde zu einer Welle rund um ihn. Er freute sich an der Welle und vergaß dabei für einen kurzen Moment, dass er ein sehr kleiner Mann war. Und er vergaß, dass es andere Hände gab. Offene Hände hatte er nie geübt. So wusste er nicht, dass viele offene Hände gemeinsam eine Schallmauer bilden konnten. Und damit die Welle zurückschickte – zu den kleinen Fäusten an dem langen Tisch.
Eine Geschichte, die nachdenklich macht und mich daran erinnert, wie viele Gedanken man sich heute macht, um erfolgreich zu sein, sei es im Beruf oder sonstwo, wie man sich verdreht und verbiegt, um den Eindruck zu machen, der angeblich zum Erfolg führt. Doch letztendlich bleibt man, der, der man ist. Je mehr Schauspiel man vollführt, umso größer wird das Unglück und die Unzufriedenheit, in der man immer tiefer versinkt. Am Ende platzt man und die Wirkung ist verheerend. Wäre man doch nur durchgängig und von Anfang an echt gewesen. Vielleicht hätte man dann seinen wahren Platz und seine wahre Berufung gefunden.
Ganz herzlichen Dank für die Bewertung und die sehr interessante Rückmeldung!