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Ein Zimmer, zwei Fenster. Plötzlich fällt in einem ein federleichter, flauschiger, fast fauler Fantasieschnee. Im anderen – weißer Zorn. Da galoppieren Eisreiter, durchpflügen bedrohlich die Luft, lassen sie rissig zurück. Ich zittere, gefangen von den Bildern. Mein Blick – hin und her, hin und her, quasi entzweit. Ein Auge zum linken, eins zum rechten Fenster. Erstaunt-schielende Augen blicken in das unterschiedliche Paar meines Zimmers. Eine alte Hellseherin aus dem Dorf meiner Mutter erzählte uns einst – den Schnee schickt ein Gott von oben. Das sind die Seelen der Verstorbenen. Er lässt sie ab und zu wieder die Erde besuchen.
Also, die von dem ruhigen Fenster sind froh hier zu sein, die anderen eher nicht, denke ich mir und lehne meine Stirn gegen das Glas. Vermutlich wollen sie woanders hin, so zielstrebig fliegen sie durch den Vorabend. Ich bibbere und erinnere mich weiter. Eine Göttin dagegen, behauptete jene Alte aus dem Dorf, verbindet den Schnee mit dem Leben, mit was Neuem wie einem Neugeborenen. Deshalb kann man bei der ersten silbernen Pracht des Jahres sofort etwas anfangen und es wird gelingen … Hmm, es ist nicht der erste Schnee für dieses Jahr. Es ist schon April und er macht, was er will. Trotzdem oder genau deshalb könnte ich auch doch was … Aber was? Was soll ich anfangen, frage ich mich. Wovon träume ich noch? Könnte ich mein Leben neu beginnen?
Ein Zimmer, zwei Fenster. Ich öffne das Stürmische. Unzählige frostige Speere treffen mich ins Gesicht, die schärfsten ins Herz. Einige landen auf der Fensterbank und verschwinden augenblicklich im Nichts. So ist die Zeit vor meiner Nase geschmolzen, die Beweise sind tief in mir drin und natürlich äußerlich zu finden. Ich bin überwältigt von einer urkalten Einsamkeit, fühle mich ur-uralt … Ich vergesse nach und nach meine Sehnsüchte, meine Trauer ebenso. Die Gesichtszüge meiner Eltern verblassen. Die Spuren der Vergangenheit verlieren sich wie im tiefen Schnee. Sie bewegen kaum noch mein Inneres. Meine Liebe wird verschüttet. Ich werde von Minute zu Minute nur noch eisig.
Ein Zimmer, zwei Fenster. Ich öffne das Friedliche. Weißes Pulver fällt in meine ausgestreckten Händen, bedeckt sie allmählich mit Ruhe. Ein Gefühl von Freiheit erfüllt mich. Freiheit – und ein wenig von jener Urkälte bleibt noch. Aber der Schnee hier weckt herrliche Kindheitserinnerungen. Ein feiner, funkender Feenschnee. Es häufen sich Schicht auf Schicht, wie die Jahre sich angehäuft haben, und es sieht harmonisch aus. Die Zeit liegt unschuldig da. Jede Wunde ist mit weißem, reinem Verband versorgt, jeder Schmerz gelindert. Es ist still, klirrend-kristall-klar. So muss es sein. Ich bin eine Schneeflocke, bin ein Teil von diesem Märchen. Bin hier unter so vielen Glücklichen, Gleichen und doch Einzigartigen. Ich habe meinen Platz gefunden. Endlich fühle ich mich wohl.
Das ist der Fernwehschnee und ich fliege aus dem Fenster. Ich hinterlasse keine Spur, nirgendwo auf dieser Welt. In mir ertönen fast vergessene Zeilen:
Es fällt, es fällt der schönste Schnee vom Himmel
Ich bin selig, fliege übers Dorf und Haus
Gott schüttelt seinen Teppich von oben aus
Ich fliege, komme was wolle
Oder bist du´s, Frau Holle? …
Ach, es ist schon April, dennoch alles, alles hinter und vor mir ist weiß. Das ist kein Scherz, alles ist einfach Poesie.
„federleichter, flauschiger, fast fauler Fantasieschnee“: schöne Alliteration! Ansonsten gewohnt wortmächtig, sprachmächtig, pointiert und schlagstark lebensnah.