Eine Geschichte in 3 Versen
Von Anna-Katharina Stangl
Vers 1 Hoffnung
Es war ein kalter, verregneter Tag, als sie das unbekannte Pfeifen das erste Mal vernahm, dicht gefolgt von einem Knall und einem Erzittern der Erde, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Heute, fast ein Jahr später, hatte dieses früher nicht gekannte Geräusch etwas beinahe Vertrautes an sich. Nie hätte Olha sich vorstellen können, dass man sich an derlei Grauen und Angst gewöhnen könnte, doch die Psyche des Menschen ist ein wunderliches Ding und kämpft ebenso ums Überleben, wie der Körper.
Olha stand vor den dunkeln Ruinen ihres Geburtshauses. Wie in Trance stieg sie mit ihren nackten Füßen über die Trümmer hinweg, die ihr einst Heimat waren. Irgendwo darunter musste ihre Familie begraben liegen. Sie blieb stehen. Die Welt begann vor ihren Augen zu verschwimmen.
Ihre vor Kälte tauben Zehen gruben sich in den von Ruß und Trümmern schwarz gewordenen Schnee auf der Suche nach Halt und Stabilität. Doch ihre vom Tanzen sonst so gestärkten Beine wollten sie nicht mehr tragen und so sank sie mit einem nicht enden wollenden Pfeifen in den Ohren gegen die zerstörte Mauer. Gerade wollte sie die schmerzenden Lider schließen, als sie neben sich im Schnee ein sanftes Geräusch vernahm, dass durch das Pfeifen in ihrem Kopf zu ihr drang. Erschöpft drehte sie den Kopf zur Seite und sah nur wenige Zentimeter neben ihrer Hand eine kleine Meise in den Farben ihrer Heimat, die sacht an ihren Fingern pickte, wie um ihr zu sagen, sie solle nicht aufgeben. Ein Lächeln stahl sich auf Olhas Gesicht und sie begann zu hoffen. Hoffte auf die Heimkehr ihres Vaters von der Front.
Vers 2 Solidarität
Die Trümmer lagen überall und versperrten Finka den Weg, den sie so viele Male genommen hatte. Tag ein Tag aus ging sie jeden Morgen diese Straße entlang auf dem Weg in das Café. Und jeden Abend, wenn der Strom an Touristen, die täglich das Café besuchen weit nach Sonnenuntergang abbrach, begab sie sich wieder auf den Heimweg, in das Haus, in dem auch schon ihre Eltern aufgewachsen waren. Finka arbeitete in dem Café seit sie 16 Jahre alt war. Heute war sie 62 und konnte kaum glauben, dass das „Cvijet“ nun in Trümmern vor ihr lag. Die Verzweiflung umfing sie mit eisigen Klauen. Sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust und griff nach Atem ringend an ihr Herz. In diesem Moment spürte sie eine weitere Hand auf ihrer Schulter. Eine Hand, die nicht die ihre war. Sie blickte auf und sah in das junge, freundliche Gesicht ihrer schwangeren Nachbarin. Diese hielt ihr eine Flasche Wasser entgegen. Finka nahm sie dankbar an und ließ sich von der jungen Frau zu einem der Klappstühle führen, die von den, aus ganz Europa angereisten Helfern, den Betroffenen bereitgestellt wurden. Auf Finkas von der vielen Arbeit und der Sonne geprägten Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Das Erdbeben mochte ihr alles genommen haben, aber es würde sie nicht brechen, denn die Solidarität der Menschen lebte weiter.
Vers 3 Liebe
Das erste Mal, als sie ihn gesehen hatte, war ihr Gesicht noch von goldenen Locken umrahmt gewesen. Ein wenig zu wild waren sie gewesen für den Geschmack ihrer Eltern. Generell hatte sie es ihnen meist nur schwer rechtmachen können. Sie war nie wie anderer Leute Töchter gewesen. Statt die hübschen Kleider zu tragen, die ihre Mutter ihr gekauft hatte, hatte Hilde sich heimlich in den Hosen ihrer Brüder nach draußen gestohlen. Sie hatte nie nähen oder sticken wollen, wie es sich ihre Eltern gewünscht hatten, sondern hatte Bücher von fernen exotischen Ländern gelesen und sich weit weit fortgeträumt von ihrem goldenen Käfig. Als sie sich eines Tages wieder einmal von Zuhause davon geschlichen hatte und unter abfälligem Getuschel der Passanten ins Dorf gerannt war, geschah es. Gerade, als sie um eine Ecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. Der Aufprall war so heftig, dass sie zurückgeschleudert wurde. Doch bevor sie auf dem Backsteinpflaster aufschlagen konnte, umschlang ein kräftiger Arm ihre Taille und drückte sie an eine schwarz behaarte Männerbrust, die in einem weißen Leinenhemd steckte. Valentino. Ein Gastarbeiter aus Süditalien. Von da an, war es um sie geschehen und auch der junge Italiener war von der selbstbewussten Frau, die sich von niemandem etwas sagen ließ und unbeirrt ihren Weg ging, wie verzaubert. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, war Hildes Haar nicht mehr golden, sondern schlohweiß. Doch auch Valentinos Haare waren grau geworden und sein getönter Teint von tiefen Falten durchzogen. Hilde lächelte ihren Ehemann zärtlich an und drückte liebevoll seine runzelige Hand, die ebenso schwach und zittrig war, wie ihre eigene. Er mochte sie nicht mehr erkennen, doch einer Sache war sie sich gewiss, als er ihr Lächeln erwiderte. Die Liebe, die sie füreinander empfanden – die Liebe würde immer bleiben.
Ein berührender Text. Wünsche der jungen Autorin noch viele weitere Schreibideen!
Die Texte ziehen den Leser sehr schnell in die Phantasiewelt hinein und lassen das Geschehen lebendig erleben, die Umgebung fühlen, die Gedanken der Protagonisten nachempfinden. Der Spannungsaufbau und die Lösung empfinde ich als gelungen, wenn auch keine sehr überraschende Variante geboten wird, die in dem Kontext auch nicht unbedingt zu erwarten ist.
Der sprachliche Ausdruck ist angenehm vielseitig , einfühlsam .
Die drei Verse lassen uns das Bedürfnis nach mehr Menschlichkeit deutlich spüren und stehen damit in der aktuellen Zeitqualität.
Vielen Dank!