Ein schonungsloses Meer, das schwemmt. Wie kommt das Salz ins Meer. Oder das Salz dann in den Supermarkt. Wie kommt der Müll ins Meer oder besser, wohin kommt er danach. Das Meer schwemmt. Die rohe Masse. Wenn du im gleißend weißen Sand stehst, mit den Zehen nach Muscheln wühlst, die irgendwann mal lebendig waren. Für dich ist es Urlaub. Für dich ist der Horizont freiheitsliebend. Abends klickst du YouTube-Videos mit Wellengeräuschen, damit du besser einschlafen kannst. Heilsam irgendwie, dieses Meer, mit den Müllteppichen und den untergehenden Kreuzfahrttankern. Kreuzfahrttankerkapitäne, die sich an Land retten, in Traumschiffuniform. Manchmal, wenn es ganz still ist, schwimmen stille Delfine um Venedig, bevor es untergeht. Manchmal, wenn es ganz still ist, kannst du hören, wie dort drüben die Erde bebt. Nein, natürlich nicht, das war die Pointe. Du hörst nie, wie die Erde bebt, du hast ein Airbnb mit automatischen Rollläden, die vakuumieren gut. In der Nacht surrt die Klimaanlage ganz leise. Mischt sich mit dem Wellenrauschen, das du gerne hast. Du hast das Meer so gern. Und das Meer dich. Du wirst in der Nacht von Mücken zerfressen. Wenn du sie zerschlägst, ist Blut an der Wand, die bitterste Gewalt, die du dein Lebtag gesehen hast, dein eigenes Blut mit Mückenleichenfetzen auf der weißen Wand. Du hast mal gehört, man soll die Mücken fertig saugen und den Stich versiegeln lassen und erst dann erschlagen. Die Geduld hast du nicht. Mücken, die auf deiner Haut sitzen, machen dich unrund.
Den Tag über liegst du im gleißenden Sand unter der gleißenden Sonne, vielleicht auch auf dem gleißenden Plastik einer gleißenden Luftmatratze, auf deren Etikett Made in China steht. Das Etikett entsorgst du aber rasch. Das Bräunen ist ein essentieller Bestandteil. Das Urigste am Urlaub. Bei dir ist braune Haut schön, bei anderen nicht. Das ist sehr wichtig. Bei dir macht Bräunen sehr viel Sinn. Sonst macht auf dieser Welt nicht viel Sinn, das aber schon. Zum Glück ist Sommer. Dann regnet es endlich gar nicht mehr.
Das Meer schwemmt. So wie du Dinge in der Toilette wegspülst, Ausscheidungen, Tampons, Erbrochenes, Essensreste. Der Strand ist angespült. Treibgut, auf dem Kinder herumklettern. Kinder bauen Burgen und trampeln dann auf ihnen herum. Plastik. Totes Tier, mit Plastik im Bauch. Plastik, mit toten Tieren drin. Igitt!, rufst du. Heute gehe ich nicht ins Wasser. Der Ekel überkommt dich, vor all dem Dreck, der um dich wabert. Quallen können stechen, aber Strohhalme auch. Das Meer ist aber sehr unpolitisch. Du auch.
Hey nein, warte mal. Das stimmt doch alles gar nicht. Du spendest Geld an Hilfsorganisationen. Du bist gegen Krieg. Du bist gegen den Nationalsozialismus, weil das war wirklich schlimm. Das darf sich nicht noch einmal wiederholen. Oder. Oder. Oder? Keine Antwort. Du bist schon längst in der Wiederholungsschleife drin. The neverending story. Aber. Aber. Aber! Du kaufst eine Ziege zu Weihnachten, für eine Familie in Afrika. (Ist Afrika ein Land.) Du weißt nicht genau, wo in Afrika oder für wen, aber es hilft. Das ist Balsam für Kolonialverbrechen. Du arbeitest nicht auf. Weil das niemand tut. In europäischen Museumskellern verstauben schöne Güter. Wie war das nochmal. Dritte Welt. Da kann man die Grenzen mit dem Lineal ziehen. Über die Linealgrenzen fliehen Menschen. In die andere Richtung fliegt totes Fleisch und kaputte iPhones. Das mit der Ausbeutung, das waren ja Menschen vor dir. Du kannst da gar nichts dafür. Und außerdem. Du hast mal gesehen, wie ganz viele Weiße Brunnen bauen, auf Instagram. Leuchtende Kinderaugen. So süß, es ist zum Sterben.
Nein, stopp. Alles zu kritisch. Zu bitter. So wie dein Aperol Spritz. In den Farben eines Sonnenuntergangs. Wenn die Sonne untergeht, fühlst du Romantik in der Magengegend, Hunger auch. Der Geruch von gebratenem Fisch erinnert dich immer an Sommer. (Vielleicht ist es der letzte seiner Art. Der Fisch, meine ich. Der Sommer auch.)
Da! Ein weißer Stier. Ein Stier, so weiß wie der weißeste Sand und die weißesten Felsen und die weißesten Hauswände mit den blauesten Dächern. So weiß wie weißester Kunstschnee, mit tiefgrünen Hängen drum herum. Ein schmelzender Gletscher rollt wie eine Träne über Geröll. Ohne Klimaanlage würdest du vielleicht in der Nacht einen Hitzetod sterben. Das weißt du nicht. Vielleicht stirbst du auch an einer Pandemie. Hauptsache nicht an Krieg. Du hoffst sehr, dass es in Europa keinen Krieg gibt. Andere Kriege sind ganz weit weg. Dann gibt es in Europa Krieg, aber der ist zum Glück auch ganz weit weg. Ach, es ist zum Haareraufen. Du schläfst ruhig in der Nacht. Trotz Flugzeuggeräuschen kreuz und quer. Diese Flugzeuge bringen Urlaubsgäste, keine Bomben. Da hast du aber wieder das große Los gezogen!
Also, jetzt aber. Da! Ein Stier. Ein Sinnbild des weißen Mannes. Eine kecke Metapher. Ob der mich jetzt vergewaltigt hat oder nicht, spielt auch keine Rolle, denn gerade weil er mich gekidnappt hat, ist Europa entstanden. Europa ist das Resultat einer Gewalttat eines Mannes an einer Frau? Wie kann denn das sein?! Dreh mal bitte deine Ironie leiser und Netflix lauter. An den Grenzen niedergeschlagene Menschen. Über den Grenzen niedergeschlagene Menschen. Menschen die vor dem fliehen, was Menschen vor mir angerichtet haben. Sehr frech, diese Gedanken, mich überläuft es kalt. Im Sommer möchte ich mich doch lieber mit leichter Lektüre und der erholsamen Luft befassen. Ich verteile Sonnencreme, sogar in den Kniekehlen. Das Meer schwemmt. (Ja. Leichen an.) Irgendwo werden Augen in Anbetracht untergehender Booten zugekniffen. Bei uns gibt es ja keine Eisberge. Menschen sind wie Treibgut. Die toten Kinder rühren, manchmal sogar zu Tränen, aber mehr dann auch nicht. Das Mittelmeer ist eine Tötungsmaschine. Wir stammen alle aus dem Meer. An Land gehen Qualen weiter (nicht zu verwechseln mit Quallen.) In Lagern eingepferchte Kinder rühren auch. Die sind aber zumindest nicht im Mittelmeer ertrunken. Europa ist eine zum Sex genötigte Frau und hat keine offenen Arme. Du bist zu Gast. Irgendwann wirst du zurückgeschickt. Schließlich gibt es mehrere Kontinente. Und unserer ist der beste. You know the deal. Deal with it. Zu viel?
Name der Autorin/des Autors
Charlotte Zorell
Europa ist ein unpolitisches Meer ohne offene Arme
Sehr guter und kluger Text!