Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…
Schön wär‘s. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Trotz Blütenträumen und Sonnenschein – es ist schwer, in diesem Wonnemonat Lebensfreude zu entwickeln. Während ringsum das Leben neu erwacht, es grünt und blüht, werden wir täglich mit den Bildern zerbombter Städte und getöteter Menschen konfrontiert. In Europa ist plötzlich wieder aufgestanden, welcher lange schlief. Leichen liegen auf den Straßen, andere wurden in Massengräbern verscharrt. Und die meisten von uns stehen hilf- und ratlos und fragen sich verwundert, wie es plötzlich wieder so weit kommen konnte. Wie konnte das Gespenst des Krieges aus den Gewölben steigen, in die es über Jahrzehnte verbannt war? Wie konnte es Europa, ja die ganze Welt, wieder in Angst und Schrecken versetzen? Anstelle von Mörikes blauem Band flattern in diesen Tagen die blau-gelben Flaggen der geschundenen Ukraine durch die Lüfte und lenken unseren Blick nach Osten. Belarus, Ukraine, Republik Moldau, das ominöse Transnistrien – vor dem Krieg hatten vieleWest- und Mitteleuropäer davon wahrscheinlich noch nicht einmal gehört. Genaueres darüber wussten sicher die wenigsten. Es hat uns auch nicht wirklich interessiert. Geographisch gehörten diese Länder irgendwie zu Europa, gefühlt aber waren sie weit weg, irgendwo im Osten. Ein blinder Fleck. Die Entfernung zwischen München und Kiew beträgt etwa 1730 Kilometer. Nach Madrid sind es von München aus gut 1970, nach Athen über 2000 Kilometer, nach Helsinki gar 2167. Doch die geographische Distanz besagt wenig. Mental sind – oder waren uns bislang zumindest – Spanien, Griechenland oder auch Finnland näher als die Ukraine, Belarus oder die Republik Moldau. Doch seit dem 24. Februar ist alles anders. Ob wir wollen oder nicht, der Krieg verändert unsere Wahrnehmung.
Nach Jahren nehme ich unser Gästebuch wieder zur Hand. Darin wohl bewahrt liegt meine einzige persönliche Begegnung mit einer Bewohnerin der Ukraine. 2007 war das. M. war gebürtige Russin, aber mit einem Ukrainer verheiratet und lebte seit Jahrzehnten mit ihrer Familie in Odessa. Sie war Deutschlehrerin, hatte zu Sowjetzeiten in Dresden studiert und war nun über ein mehrwöchiges Austauschprogramm in Deutschland. Für die Dauer ihres Aufenthalts war sie bei uns zu Gast. Wir haben damals viel über die Missstände in der Ukraine gesprochen: Resignation und in der Folge Alkoholismus waren M. zufolge ebenso allgegenwärtig (sie selbst hat deshalb nicht einen Tropfen Alkohol angerührt) wie Korruption. Die Infrastruktur verkommen, es war schwer, eine qualifizierte Arbeit zu bekommen, weil viele Betriebe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Ihr Mann, eigentlich Ingenieur, musste sich als Taxifahrer durchschlagen. Das Land ging vor die Hunde. So ihre Einschätzung damals. Dass in den Schulen nicht mehr russisch, wie noch zu Sowjetzeiten, sondern ukrainisch die Unterrichtssprache war, bereitete ihr Unbehagen. M. wirkte müde und ausgelaugt. Die Frau tat mir leid. Aber die Verhältnisse, die sie mir schilderte, waren und blieben mir fremd. Die Ukraine war weit weg. In diesen Wochen denke ich oft an M. und unsere Gespräche damals. Ich wüsste gerne, ob oder wie sich das Land ihrer Meinung nach in den letzten Jahren entwickelt hat oder wie sie Putins Einmarsch bewertet. Würde sie sich eine erneute Anbindung der Ukraine an Russland wünschen? 2007 vielleicht schon noch. Aber heute? Befürwortet sie das derzeitige Vorgehen der russischen Armee, die Zerstörung ganzer Landstriche, Gewalt und den Tod so vieler Zivilisten? Ich weiß es natürlich nicht, aber vorstellen kann ich mir das kaum.
Noch einmal nehme ich Richard Wagners Buch Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt zur Hand, erschienen 2014. Der Autor erkundet darin in essayistischen Miniaturen sehr feinsinnig das literarische Nachleben des ehemaligen Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn. Einer meiner vielen literarischen Annäherungsversuche an weitgehend unbekannte Welten. Literatur bringt uns Länder und Regionen näher. Sie ersetzt aber nicht den direkten Austausch oder die Begegnung vor Ort. Nur durch persönliche Kontakte kann eine wirkliche Annäherung entstehen, können unterschiedliche Lebenswelten allmählich zusammenwachsen. Ich glaube an ein vereintes Europa und doch ist Osteuropa auch Jahre nach der EU Erweiterung für mich immer noch weitgehend Terra incognita. Das wird mir in diesen Wochen mit Schrecken bewusst.
Noch ist nicht klar, wann und wie dieser Konflikt endet, wann das Gespenst (hoffentlich für immer) wieder in den Katakomben verschwindet. Wann im Frühling erneut Mörikes blaues Band durch die Lüfte und ob überhaupt die blau-gelbe Flagge wieder über einer befreiten Ukraine weht. Die Herausforderungen aber werden selbst dann längst nicht verschwunden sein. Nicht nur der Wiederaufbau der Ukraine wird Jahre brauchen, sondern auch die dringend notwendige Neu(er)findung und Neubewertung einer nach Osten erweiterten Europäischen Union. Doch nur dann werden wir aus unseren ganz unterschiedlichen Erfahrungen der Vergangenheit eine gemeinsame, tragfähige Zukunft gestalten können. Vielleicht keimt im schrecklichen Frühling 22 gerade die zarte Pflanze der Verschwisterung. Sicher ist das keineswegs.