gedicht in zahlen, unmöglich
oder reenactment für moria
eigentlich wollte ich ein gedicht in zahlen schreiben, aber schon zu beginn bin ich gescheitert, als es nämlich darum ging herauszufinden, wieviele einweg-plastikflaschen mit einer haltbarkeit von jeweils ungefähr 450 jahren in den flüchtlingslagern der griechischen inseln täglich auf dem müll landen, den man auf den vielen youtube-videos zwischen verdreckten dixi-klos, nato-drahtrollen und zerschlitzten zelten sehr gut sehen kann. ich habe bei den cateringfirmen nachgefragt, die die pet-flaschen in die lager liefern, 1,5 liter trinkwasser pro person und tag sind von der europäischen union vorgeschrieben, aber niemand weiß genau, wieviele plastikflaschen pro tag in den lagern verbraucht werden, denn niemand weiß genau, wieviele personen es pro tag in den lagern gibt, die zahlen ändern sich tag für tag, von den nächten gar nicht zu reden. immer wieder kommen neue personen hinzu und ein paar reisen ab, reisen weiter oder zurück, je nachdem. die anzahl der personen variiert, egal, ob real, geschätzt oder prozentual, je nachdem, wo und wie man der sache nachgeht, auch die anzahl der toten personen und der vermißten personen und der kinder sowieso, egal, ob unbegleitet oder nicht, immer wieder kommen neue hinzu und ein paar gehen unter. wenn man nicht weiß, wieviele personen in den lagern trinkwasser erhalten, ist es müßig herauszufinden, ob das trinkwasser in 1,5- oder 0,5-liter-pet-flaschen geliefert wird: gedicht in zahlen, unmöglich. sicher ist nur, dass erheblich weniger pet-flaschen in den griechischen flüchtlingslagern verbraucht werden, seitdem die griechische küstenwache alle streng abwehrt, die sich an die griechische küste flüchten wollen. sicher ist auch, dass erheblich weniger pet-flaschen in den griechischen lagern verbraucht werden, seitdem das größte aller griechischen lager verbrannt ist, moria auf der insel lesbos, wo vor dem brand ungefähr 12.000 bis 24.000 personen täglich anspruch auf 1,5 liter trinkwasser hatten. dort werden also keine pet-flaschen mehr gebraucht, somit auch nicht verbraucht, und auf die straße vor dem lidl-supermarkt der insel lesbos, wo die ehemaligen bewohner morias nach dem brand vorübergehend wohnten, wurde keine einzige pet-flasche von den cateringfirmen geliefert, obwohl die ehemaligen bewohner morias weiterhin einen anspruch auf 1,5 liter trinkwasser pro tag und person hatten. aber vielleicht nimmt man es mit diesen personen insgesamt nicht so genau, ungefähr werden sie somit hier häufig lesen, ich könnte auch rund schreiben, aber leider ist hier vieles nicht rund, nur die gerundete zahlen sind rund, ob sie auf- oder abgerundet sind, wer weiß das schon. und da ich gerade bei der sprache bin, die ja für ein gedicht nicht unwichtig ist, egal, ob es ein gedicht in zahlen ist oder nicht, so muss ich sagen, dass nicht nur die ungefähren zahlen ungenau sind, von denen man immer wieder hört und liest, sondern ungenau ist auch die sprache, die man immer wieder liest und hört. flüchtlinge werden ersatzweise geflüchtete genannt, schutzsuchende oder irreguläre migranten. man könnte einfach menschen sagen, aber dann wäre zu erwähnen, dass menschen rechte haben, menschenrechte nämlich, die gerade von der europäischen union mit füßen getreten werden. das sagt jedenfalls sabi, vormals afghanistan, vormals moria, asylbewerber und brandgeschädigter in einer person. per mobiltelefon zugeschaltet in eine debatte des europaparlements, die man auf einem dieser youtube-videos sehen kann, sagt er, dass man nicht von einer flüchtlingskrise sprechen dürfe, sondern von einer solidaritätskrise sprechen müsse, da es zwar ausreichend flüchtlinge gebe, aber nicht genügend solidarität mit ihnen, obwohl sie vor krieg, hunger und anderen laut menschenrechten unzumutbaren lebensbedingungen fliehen mußten, wobei ihre lebensbedingungen auf lesbos ebenfalls unzumutbar seien, davon mögen sich die abgeordneten selbst überzeugen, bitte sehr. sabi lädt die politiker höflich ein, mit ihren familien per schlauchboot nach lesbos zu kommen, um mit ihm und seiner familie auf der straße vor dem lidl-supermarkt zu campen, ohne noch so schlechtes essen und ohne eine einzige pet-wasserflasche. kein extrem-urlaub, sondern ein reenactment hat sabi im sinn, die rekonstruktion eines historischen geschehens als künstlerische intervention also, als theatrales und performatives experiment, als gemeinsam erlebtes live-ereignis unter einbezug von zeitzeugen. psychologen glauben, dass sich auf diese weise traumata nachvollziehen lassen. infolge neuer erfahrungen an leib und seele könnten sich somit die bilderwelten und weltbilder, die vorstellungen und einstellungen der brüsseler mitspieler ändern. sabi will das, er will, dass die politiker der europäischen union mit ihren kindern und enkelkindern unter verzicht auf polizeischutz ein dorf in afghanistan besuchen, das gerade von den taliban scharf beschossen wird. nach der kompletten zerstörung des dorfes machen sich die besucher aus brüssel auf richtung europa, zu fuss sind sie bis zu fünfzehn stunden am stück unterwegs, oft nachts, oft durch dicht bewaldetes gebiet. ihr weg führt durch pakistan, den iran und die türkei, eine route also, auf der man die libyschen übergangslager nicht live kennenlernen kann, in denen es weder pet-wasserflaschen gibt noch schlechtes essen, nur folter, sklaverei und zwangsprostitution gibt es dort, leider. immerhin unternehmen die reisenden aus brüssel in der ägäis eine erlebnistour in einem schlauchboot, das von der griechischen küstenwache unter beschuss genommen wird. nachdem der bootsmotor zerstört ist, droht das manövrierunfähige gefährt ins offene meer hinauszutreiben. aber nach diesem dramatischen höhepunkt können sich die brüsseler an die küste der insel lesbos retten. empfangen werden sie von sabi, vormals afghanistan, vormals moria, der sie zu seinem zerschlitzten zelt lotst, das nun nicht mehr vor dem lidl-supermarkt steht, sondern in dem übergangslager mavrovouni, wo es schlimmer ist als in dem afghanischen ruinendorf, das die taliban zurückgelassen haben, das können die besucher aus brüssel mit eigenen augen sehen, bitte sehr. zumindest gibt es hier wieder pet-wasserflaschen und dazu eine neue eu-verordnung, die vorsieht, dass einweg-plastikflaschen zukünftig mehrweg-plastikflaschen sein sollen, das heißt, dass man sie mehrfach verwenden wird im unterschied zu den bewohnern des übergangslagers mavrouvouni, die man nicht gern mehrfach verwenden will, eigentlich möchte man sie gar nicht verwenden, aber einfach wegwerfen kann man sie auch nicht in großen mengen, das mittelmeer ist jetzt schon voll von ihnen. also müsste man sie wohl oder übel zurückgeben, aber vielleicht fällt den brüsseler politikern noch etwas anderes zu ihnen ein nach diesem reenactment, dazu war es ja eigentlich gedacht, zumal man sie laut sabi, vormals afghanistan, vormals moria, derzeit mavrouvouni, auf vielfältige weise verwenden könnte.
elke heinemann: gedicht in zahlen, unmöglich oder reenactment für moria, gefördert mit dem Arbeitsstipendium der VG Wort im Rahmen des BKM-Programms NEUSTART KULTUR 2021/22, erschienen in: die horen, Band 284, 2021