H(E)ART AUF H(E)ART
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„I truely loved you with passion as truely that makes me exploit.“

Sonntag. 00:05. Appartement. 5. Stock.

Selbst jetzt war es heiß und schwül. Sie hatte sich bis auf den Slip ausgezogen und stand am offenen Fenster, barfuß, ohne Licht, trank Wasser aus dem Weinglas, das sie mit Eiswürfel gefüllt hatte. Ob er bei der Hitze schlafen konnte? Oder wach lag? Nackt? Mit Schweißperlen unter den Achseln und am Rücken – in dem Zimmer, das sie nicht kannte – mit der Frau, die seine Frau war, die Hand auf ihrem Bauch, während er auf den Luftzug hoffte, der den Schlaf brachte. Der Gedanke machte sie nervös. Ihre Hände wurden feucht. Sie ging in die Küche, kippte das restliche Wasser in die Spüle, füllte ihr Glas mit Weißwein aus dem Kühlschrank, zündete sich eine Zigarette an und stellte sich wieder ans Fenster.
Sie liebte ihn und sie war es leid. Die Ausflüchte. Seine Vertröstungen. Das Warten. Es war nicht mehr länger auszuhalten. Die Situation machte sie zu einer jämmerlichen Figur, der die Sehnsucht das Hirn weg brannte. Sie leerte das Glas in einem Zug, goß nach, stützte sich auf die Steinfensterbank, war dankbar für die Kühle an den Unterarmen, beugte sich hinaus, roch den schweren Duft der Linden, kein Auto auf der Straße, kein Fußgänger. Sie blies den Rauch in den Himmel, in Richtung des Mondes. Er war eine schmale Sichel. Sie griff nach ihrem Smartphone und schrieb die Nachricht: Ich will Dich sehen! Morgen. Es ist dringend. Als sie auf Senden drückte und die SMS durch die Nacht rauschte, zog es in ihrem Bauch. Sie ging ins Badezimmer, ärgerte sich über die Augenringe, die sie im Spiegel sah, duschte kalt und legte sich schlafen.

Dienstag. 15:00. Klinik.

„Frau Lazard, können Sie mich hören? Wenn Sie mich verstehen, bewegen Sie bitte die Hand!“
Von weit weg hört sie die Stimme und sie kann nichts damit anfangen. Sie ist unter Wasser. Am Grund des Meeresbodens. Sie hat den Salzgeschmack in ihrem Mund. Sie sitzt aufrecht mit übergeschlagenen Beinen. Ihr Kleid bewegt sich wie ein Schmetterling. Es ist still und friedlich. Das Licht, ein dunkles Blau. Sie betrachtet ihre Hände, die gefaltet im Schoß liegen. Sie sehen fremd aus. Was war passiert?
Wieder hört sie den Satz, bitte bewegen Sie die Hand. Sie versucht den linken Zeigefinger zu heben und dabei löst sich ihr Körper vom Boden und wird nach oben gezogen. Luftblasen sprudeln um sie herum. Sie taucht auf. Du musst Dich entscheiden, was Du willst, hatte sie zu ihm gesagt. Eine Welle rollt heran. Sie überschlägt sich. Sie ist schwarz. Sie ist in ihrem Kopf. Sie öffnet die Augen.
Weiße Wände. Neonröhrenlicht. Schläuche ragen aus ihr. Über ihr, das verschwommene Gesicht eines Mannes im weißen Kittel, mit randloser Brille.

„Endlich“, sagt er und lächelt dabei. „Ich bin Doktor Eno.“

Es ist die Intensivstation. Das ist ihr klar. Infusionsbeutel hängen an dem Ständer neben ihr und sie hört Geräte piepsen und gleichzeitig das Quietschen der Bremsen und den Knall. Sie schmeckt Blut.

„Der Bus“, flüstert sie. „Was ist mit mir?“

„Dass Sie sich erinnern, ist ein gutes Zeichen“, sagt der Arzt. „Sie haben eine schwere Kopfverletzung und zwei Rippen sind gebrochen. Aber alles wird gut werden. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Die Tür schwingt auf. Aus den Augenwinkeln sieht sie einen Mann mit kahl rasiertem Schädel, Mundmaske, Gummihandschuhe und schlampig übergezogenem Kittel. Er nähert sich dem Bett. Wirft einen Blick auf sie.

„Wie geht es ihr?“, fragt er im sachlichen Ton.

„Sie ist gerade aufgewacht“, sagt der Arzt.

„Kann ich ihr Fragen stellen?“

„Nein, auf keinen Fall. Frühestens in zwei Tagen.“

Was wollte der Typ von ihr? Sie merkt, wie die Augen ihr wieder zufallen.

Donnerstag. 10:00. Klinik.

Zwei Männer stehen neben ihrem Bett. Der Arzt und der Kahlköpfige. Jetzt trägt er eine schwarze Lederjacke.

„Guten Morgen, Frau Lazard, wie geht es Ihnen?,“ sagt der Arzt.

„Ich habe Schmerzen. Im Kopf und in der Brust.“

„Wir können das Schmerzmittel erhöhen. In ein paar Tagen wird es Ihnen besser gehen. Das hier ist Kommissar Rohrbach. Er möchte Ihnen Fragen stellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“

Sie tastet mit den Händen nach ihrem Kopf und fühlt den Verband.

„Nur ganz kurz“, sagt der Kommissar. Er nickt ihr zu. Knapp. Unpersönlich. Dann zieht er den Stuhl ans Bett und setzt sich. Sein Geruch nach Zigaretten und Leder verursacht ihr Übelkeit.
“Sie wissen, was passiert ist, Frau Lazard?“, fragt der Kommissar, zieht dabei Notizbuch und Stift aus der Jacke.

Ja“, sagt sie. „Ich hatte einen Unfall.“

„Was genau ist passiert?“

„Ich bin vor den Bus gelaufen.“

Sie hört ihre Absätze klappern. Sie rennt.

„Das wissen wir“, sagt der Kommissar und klopft dabei mit dem Stift auf das Papier. „Nach Aussage des Busfahrers sind Sie ohne zu schauen aus dem Hotel gelaufen und auf die Straße gerannt.“

„Kann sein.“

„Waren Sie in Panik?“

„Wieso Panik? Ich verstehe die Frage nicht. Ich habe den Bus nicht gesehen. Was genau wollen Sie von mir wissen?“

„Mit wem waren Sie in dem Hotel?“

Sie antwortet nicht. Ein Pfeifton ist in ihrem Ohr.

„Sie kennen Jacob Sander?“

Wieder schweigt sie.

Der Kommissar wiederholt die Frage. Schließlich sagt sie: „Ja.“

„Auf Herrn Sander wurde geschossen“, sagt der Kommissar und heftet seinen Blick an ihre Augen und Lippen.“In einem Hotelzimmer. Sie wissen, wovon ich spreche?“
Zuerst ist es still in ihr. Dann bricht ein Sturm los. Ihre Schädeldecke, darunter, Möwen, sie sind außer sich, hacken, stoßen, sie kreischen, es sind so viele, dass sie aneinander krachen mit den Flügeln. Hört auf, Aufhören!, will sie schreien.
Der Monitor, schrillt.

„Ich bitte Sie! Das war so nicht abgemacht!“, ruft der Arzt. Eine Schwester rennt mit der Spritze herein.

„Ich tue nur meine Pflicht“, erwidert der Kommissar. „Sie sagten mir, sie sei außer Lebensgefahr.“

„Sie ist eine Komapatientin!“, sagt der Arzt.

„Sie ist vielleicht eine Mörderin,“ sagt der Kommissar.

Mörderin? Nein! Sie spürt den Aufprall des Buses.

„Ist er tot?“

Die Möwen sitzen jetzt nicht nur im Kopf. Sie wüten in ihrer Brust, bohren lautlos Löcher mit ihren Schnäbeln – sie versucht um sich zu schlagen, aber der Schmerz zwingt sie zum Stillhalten – etwas Pelziges kriecht über ihr Blut in den Körper hinein, als der Arzt die Spritze in den Venenzugang drückt. Sie heult. Ihr ganzer Körper bebt.

„Beruhigen Sie sich. Aktuell ist er am Leben“, sagt der Kommissar.

„Wir machen eine Pause“, sagt der Arzt.

Ihr wird es schwarz vor den Augen. Als sie wieder wach ist, sitzt der Kommissar unverändert da.

„Was ist mit Jacob?“, fragt sie und sie wundert sich, wie sie es überhaupt fertig bringt zu sprechen.

„Wir wissen nicht, ob er durchkommt.“

Das Schlucken tut ihr weh. Er darf nicht sterben, lieber Gott, bitte, laß ihn leben, betet sie im Stillen und sagt:

„Ich habe nicht auf ihn geschossen. Wieso sollte ich?“

Der Kommissar notiert etwas in das Notizbuch.

Sie waren seine Geliebte, nicht wahr?“, sagt er. „Laut Hotelpersonal buchte Herr Sander seit Jahren ein Doppelzimmer für den Nachmittag. Laut Hotelpersonal sind sie aus dem Hotel gerannt.“
Sie schweigt.

„Waren Sie glücklich damit, seine Geliebte zu sein, Frau Lazard? Eine Parallelwelt hinter zugezogenen Vorhängen? Haben Ihnen die Schokoladenstunden genügt?“, fragt er. „Sind Sie eine genügsame Frau, Frau Lazard? Mir genügt es, wenn Sie nicken.“
Wie konnte er es wagen in diesem Ton mit ihr zu sprechen und ihr derart unverschämte Fragen zu stellen?

„Ich will wieder schlafen, ich habe Schmerzen, bitte gehen Sie!“, sagt sie.

„Bitte antworten Sie auf meine Frage, ob sie seine Geliebte waren?“

Sie schweigt.

„Darf ich Ihr Schweigen als Zustimmung werten?“

„Ja“, sagt sie schließlich kaum hörbar. „Wir hatten ein Verhältnis und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

„Hatten?“, fragt der Kommissar. „Wer hat Schluss gemacht? Haben Sie sich gestritten? Was genau ist passiert, Frau Lazard? Denken Sie nach. Dann bin ich weg!“

Die Fragen fliegen auf sie zu und werden zu einem blinkenden Schriftzug, der sich über die schwarze Leinwand in ihrem Kopf spannt. Buchstaben in wechselnden Farben, Graphiken und Größen wachsen wie Blüten, werden zu Bildern. Sie sieht Jacob, wie er die Hand nach ihr ausstreckt und sagt, bitte versteh mich, Beatrice, bitte, gib mir Zeit und sie, sie stößt ihn zurück und schreit ihn an. Was hatte sie geschrien? Sie weiß es nicht.

„An was erinnern Sie sich, Frau Lazard?“

An sein Lachen, denkt sie und muss dabei lächeln. Wie er in der Tür steht mit diesem Lachen, das sie besonders gerne mag, vielleicht mehr als alles andere. Es verwandelte ihn in einen Jungen. Einen großen, viel zu schnell gewachsenen Jungen. Sein Lachen. Seine Nähe. Nach beidem ist sie süchtig gewesen. Und jetzt? Sie horcht in sich hinein und wird von der Frage, an was sie sich erinnere, zurückgeholt.

„Wir haben geredet“, sagt sie.

„Geredet? Über was geredet?“

Sie schaut zum Fenster. Es regnet. Sie ist müde. Ihre Augenlider, schwer wie Blei.

„Er hat Sie nicht gewollt, nicht wahr?“, sagt der Kommissar und beugt sich über sie. Sie muss die Luft anhalten. Sie kann die Poren auf der Nase erkennen. Auf den Lippen, eine Speichelschicht.
Sie möchte sich aufrichten. Möchte aufspringen, sich die Venenkatheter aus dem Arm reißen und ihn ohrfeigen.

„Gehen Sie weg! Sie überschreiten die Grenzen“, sagt sie.

„Wer hat hier die Grenzen überschritten?“, sagt er. „Mordversuch gehört wohl zu den größtmöglichen Grenzüberschreitungen, oder nicht?“

„Ich habe nicht versucht ihn umzubringen!“

Ihre Hände zittern. Sie steckt sie unter die Bettdecke.

Der Kommissar verzieht den Mund. Grinst schief.

„Ich nehme an, Herr Sander wollte sein altes Leben behalten“, sagt er. „Eine Trennung von seiner Frau kam nicht in Frage – ging es darum in dem Gespräch, habe ich Recht?“

„Sie wissen nichts, gar nichts“, sagt sie. Regen trommelt an die Fensterscheibe. Sie wünscht sich auf die andere Seite der Scheibe. Draußen im Freien zu stehen, klatschnass dazustehen und die Regentropfen aufzufangen mit der Zunge.

„Immer das gleiche Spiel“, sagt der Kommissar, atmet hörbar ein und aus und schüttelt den Kopf wie ein Oberlehrer. „Das Leben ist eine einzige Aneinanderreihung. Geburt. Arbeit. Tod. Dazwischen, die Liebe. Es wird kompliziert, dramatisch. Es läuft nach Schema F. Wer anderes glaubt, ist ein Illusionist. Oder Romantiker. Sind Sie Romantikerin?“

„Und wenn? Wollen Sie mich dafür festnehmen?“

„Wenn Sie gestehen, ja“, sagt er.

„Reimen Sie gerne weiter alles Mögliche zusammen, wenn es Ihnen Spaß macht“, sagt sie. „Aber bitte, ohne mich. Ich bin die Falsche und das ist wahr. Wir haben geredet, aber ich erinnere mich nicht, um was es ging. Der Arzt sagt, Gedächtnislücken sind normal.“

Der Kommissar macht Notizen.

„Wenn Sie sich nicht erinnern, woher wollen Sie dann wissen, dass Sie nicht geschossen haben?“

„Ich bringe nicht das um, was ich liebe“, sagt sie.

„Und Sie lieben es, in die zweite Reihe gestellt zu werden?“

Der Satz sitzt. Die Möwen kommen angeflogen. Sie fühlt die Scham in ihr hochsteigen.

„Hören Sie auf mich zu verarschen“, sagt der Kommissar. „Eifersucht ist eines der Hauptmotive bei Mord. Das weiß jeder, auch Sie, Frau Lazard. Ich wette, Sie waren krank vor Eifersucht. Ich wette, Sie haben geglaubt, ihr Glück hinge von ihm ab. Fühlten Sie sich zur Schlampe degradiert? Ja, zur Schlampe, das frag ich Sie, frei von der Leber weg. Und bitte glauben Sie mir, ich will Sie nicht kränken.“

Er zieht ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und putzt sich die Nase.

Ihr wird schlecht. Ich bin schuldig, möchte sie sagen, ich bin schuldig, schafft es aber nicht, sich gegen den Lärm der Möwen durchzusetzen.

„Warum sagen Sie nichts?“, fragt er. „Habe ich ins Schwarze getroffen?“, fragt er. „Hat er Sie enttäuscht? Haben Sie sich täuschen lassen?“, fragt er. „Wenn es hart auf hart kommt, ziehen sie doch alle den Schwanz ein, das weiß man, nicht wahr? Ist ja auch sein gutes Recht oder finden Sie nicht? Ich will nur wissen, was passiert ist!“

Sie versucht den Kopf von ihm wegzudrehen, was für ein Arschloch! Sie schließt die Augen. Und gleichzeitig, denkt sie, ist er wie ein verdammtes Vergrösserungsglas, zoomt er ihr Innerstes heran, reißt Türen auf, und ja, sie muss es zugeben, er spricht die Dinge aus wie sie waren, wie sie sie nicht hatte sehen wollen, das machte sie schuldig, schuldig, weil sie geflüchtet war, in Luftschlösser geflüchtet, weil sie es zugelassen hatte, das Schattendasein, die Wörter aus Seifenblasen. Um ihn nicht zu verlieren, hatte sie sich selbst verloren. Sie hatte ihm den roten Teppich ausgerollt für seine Lügen. Sie hatte sich zurückgenommen wie ein Hund, wie sein Schoßhündchen, stumm stillgehalten, hinterhergelaufen und gewartet. Und sich unzählige Male versetzen lassen. Ein Dauerzustand. So wie im Frühjahr, sie waren verabredet gewesen, fürs Wochenende, zusammen in Berlin, ein ganzes Wochenende, sie am Flughafen gestanden mit neuen Schuhen, zwei Stunden. Er war nicht gekommen. Er hatte den Bogen überspannt.

Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt sie.

„Ich helfe Ihnen“, sagt der Kommissar. „Traten Sie ein und schossen Sie sofort? Oder kam es davor zu einem Wortwechsel? Zu einem Kuss? Den letzten, ehrlichen Kuss, wie in dem Song von den Toten Hosen? Kennen Sie den Song?“

Er pfeift die Melodie.

Das Bett blieb unberührt, sagt er. Seine Zungenspitze fährt über die Unterlippe. Sie glänzt.

„Keine Spur von Sperma“, sagt er. „Und ich soll Ihnen wirklich glauben, Sie hatten keinen Streit?“

„Es ist absurd“, sagt sie.

Dann erzählen Sie doch endlich die Wahrheit!“

Sie beginnt die Infusionstropfen zu zählen, wie sie aus dem Plastikbeutel herabtropfen. Welche Wahrheit?
Sie sieht Jacob die Tür öffnen, im Wechsel der Jahreszeiten, und sie sieht sich im schwarzen Kleid, das sie trug, beim letzten Mal, als sie die Fassung verlor, ihn anschrie, ihn anflehte, er solle den Mund aufmachen, ihr sagen, was er wollte, damit die Qual aufhörte, weil sie doch Menschen seien, Menschen, mit einer Seele. Was hatte er geantwortet?

„Die Spuckschale, schnell“, ruft sie. Sie kotzt. Dann schläft sie. Im Traum steht sie barfuß im gelben Sommerkleid auf dem Dach einer Autogarage. Es war das Kleid, das Jacob immer mochte an ihr. Es schneite. Schöne, große, weiche Flocken. Und sie stand da und wartetet auf ihn. Sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen und nicht aufhören zu zittern. Es wurde Nacht. Es windete. Schneeflocken, hart wie Wüstenstaub. Sie schlief mit offenen Augen und sah sich dabei selbst als schneebedeckte Statue stehen. Sie fühlte weder Kälte noch Schmerz. Autoscheinwerfer tauchten auf und blendeten sie. Sie hörte das Öffnen der Autotür und hörte Schritte. Sie rief seinen Namen. Die Eisschicht zersplitterte auf ihren Lippen. Er kam näher, wischte den Schnee weg von ihrem Kopf und dem Gesicht und legte sein Sacco um ihre Schultern. Dann ging er weg.

Donnerstag. 23.30. Klinik.

Sie schreckt hoch. Sie schwitzt. Was ist der Unterschied zwischen erinnern und träumen?, denkt sie. Im Mund, der unangenehme Geschmack von etwas klebrig Süßem.
Der Kommissar sitzt neben ihr. Er trägt die Lederjacke. Neu ist der Hut, ein grauer Filzhut mit schmaler Krempe, den er sich in den Nacken geschoben hat. Er schaut Nachrichten auf dem Handy.

„Haben Sie gut geschlafen?“

Sein Ton kommt ihr eine Spur freundlicher vor.

„Gold beim Rudern“, sagt er. „Wir haben Gold gewonnen, und ich habe aufregende Neuigkeiten für Sie, Frau Lazard, halten Sie sich fest. Wir wissen jetzt, wer geschossen hat“, sagt er und macht eine Pause, bevor er mit der Nachricht herausplatzt. „Es war seine Frau“, sagt er. „Sie hat sich freiwillig gestellt. Was sagen Sie dazu? Hatten Sie gewusst, dass Herr Sander ihr versprechen musste, Sie nicht mehr zu sehen? Hat er Ihnen das gesagt?“

Er schnalzt mit der Zunge. Sucht ihren Blick.
Die Möwen sind wieder da. Kreischen. Bringen Erinnerungsfetzen mit. Es wird alles anders werden, hatte Jacob gesagt, du wirst sehen, ich verspreche es Dir, ich schwöre es, hatte er gesagt. Ich schwöre es. Und hatte sie beide angelogen. Typisch. Beinahe wäre sie hereingefallen, auf seinen ernsthaften Blick, hätte wieder Hoffnung geschöpft, aber sie war gegangen. Hatte die Tür hinter sich zugezogen mit einem Ruck. Dann explodierte die Illusionsblase, als sei sie ein Mienengürtel, den sie um die Brust trug. Der Schmerz flog ihr um die Ohren. Für einen Moment, kann sie die Frau verstehen. Sieht sich selbst dastehen und abdrücken. Sieht ihn fallen mit ungläubigem Blick, die Hände auf die Brust gepresst, geht er in die Knie, Blut zwischen den Fingern, der Teppich färbt sich rot. Dann glaubt sie, ihr Kopf würde platzen.

„Was ist los? Sie sind weiß wie die Wand?“, sagt der Kommissar. „Der Fall ist gelöst. Sie sind raus. Glückwunsch!“, sagt er. Klatscht in die Hände. „Und jetzt kommt die zweite gute Nachricht: Herr Sander ist überm Berg.“

Er grinst. Steht auf. Zwinkert ihr zu. Er legt seine kühle Hand auf ihre Hand.

„Jetzt kann das Spiel von vorne los gehen. Wiedersehen, Frau Lazard, Wiedersehen!“

Ihr Puls überschlägt sich. Sie drückt den roten Knopf. Der Arzt rennt herein. Spritze. Schnell. Spritze. Wie durch Nebelschwaden hindurch, sieht sie dem Kommissar nach, wie er das Zimmer durchquert, sich tänzelnd umdreht, ihr zuwinkt, in Zeitlupe winkt er ihr zu, mit dem Hut in der Hand, dem Grinsen im Gesicht, seine Konturen verschwimmen. Die Möwen verschwinden. Das Bett dreht sich. Ihr Atem wird ruhig. Wären ihre Haare nicht unter dem Verband, sie würden fliegen im Wind. Der Druck in Brust und Kopf klingt ab und ihre Hände lassen die Bettdecke los. Sie hört den Kommissar die Melodie pfeifen, von unten, von der Straße, hoch durch das geöffnete Fenster. Sie kann den Mond sehen. Seine Sichel ist breiter geworden. Zunehmende Phase. Er beruhigt sie. Er setzt dem Chaos in ihrem Herzen, das Gesetz der Gestirne gegenüber und ordnet die Gefühle, die ihre Sprache sprengen, die sie in Räume katapultiert hatten, die jenseits der Höllenschleifen lagen, den Liebreiz des ewigen Frühlings bargen. Sie beide waren gescheitert. An der Offenheit, an ihrer beider Feigheit sich dem Konflikt zu stellen, an der Sprachlosigkeit, jeder auf seine eigene Art und Weise. Sie weiß, es ist vorbei. Morgen würde sie aufstehen. Es würde ein Anfang sein. Sie kann es spüren.

Auf dem Monitor neben ihrem Bett beginnt der Countdown zu laufen. Die Raumkapsel, startklar. Sie sitzen sich gegenüber. Die Blicke aufeinander gerichtet. Sie tragen silberne Kunststoffanzüge und Helme. Die Sicherheitsbügel, fest geschlossen. Sie kann Jacobs Atem hören über den Sender in ihrem Helm. Er vermischt sich mit ihrem Atem. Schnell und flach. Sie spürt wie sie abheben und sein Anzug blitzt auf und wird eins mit den metallverkleideten Wänden.

Name der Autorin/des Autors
Brigitte Martin
H(E)ART AUF H(E)ART

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