Lotte gegen rechts – fast ein konkretes Märchen
Es war einmal eine klitzekleine Chihuahua-Yorkshire Terrier-Mischlingsfrau namens Lotte, die trotz ihrer Größe – oder besser Kleine – in ihrem Mischlingsvolk ein hohes Ansehen genoss. Sie trug ihr großes Herz immer auf ihrer langen, spitzen Zunge und sagte frei heraus, was sie dachte und meinte. Gleichwohl lebte sie fröhlich in den Tag und machte sich um Vergangenheit und Zukunft wenig Gedanken; nur die Gegenwart war manchmal stressig, wenn die sogenannten Herrchen und Frauchen nicht so funktionierten und spurten, wie erwartet, obwohl sie die doch lange genug trainiert hatte. Wenn Lotte nicht auf ihrem rosa Spezialkissen oder im Bett lag, das sie sich mit ihren Menschen teilte, dann stromerte sie durch ihr kleines, kunterbuntes Ländchen, wo jeder anders aussah und roch, beschnüffelte sich mit alten und jungen Freunden, tauschte an jeder Ecke Neuigkeiten aus und chillte mit so mancher Kumpeline, wie z.B. Vera, einer Kleinspitz-Dackel-Wachtelhündin, oder ihrem Freund, einem Samojeden-Schnauzer, unterm großen Eichbaum, der auch eine ganze Reihe anderer Spezies beherbergte, die sich aber alle gegenseitig tolerierten.
Manchmal reiste sie auch für einen Tagausflug in eines der Nachbarländer, wie Dalmatinien, Mopsia, Münsterland, Neufundland, nach Rottweil oder Weimar, ins Foxterritorium, nach Pekinesien oder ins Deutsche Schäferreich. Das war meist hoch interessant, weil die Hunde dort so anders waren, zugleich aber auch langweilig, weil sie alle mehr oder weniger gleich aussahen. In Dalmatinien z.B. waren die Hunde größer und schneller und ein jeder in ein Punktemuster in Schwarz-Weiß gekleidet; es war lustig, die Punktemuster zu vergleichen, um kleine Unterschiede herauszufinden oder zu raten, wer wohl mit wem verwandt war. In Mopsia sahen die Hunde alle so angestrengt traurig aus, mit zerknittertem Gesicht, das scheinbar nie lachen konnte. Das Deutsche Schäferreich war die einzige Monarchie, denn dort herrschte ein König, der passenderweise Rex hieß. Er war ein scharfer Hund und wenn er unterwegs war, rasselte er immer mit einer schweren Eisenkette.
Trotz ihrer Unterschiedlichkeit hatten sich die vielen Hundeländer auf ihrem Kontinent zu einer Union zusammengeschlossen, um u.a. die gemeinsamen Hundeinteressen effektiver vertreten und zusammen die Menschen noch besser im Griff haben zu können. Das interkontinentale Hundeparlament hatte die Visumspflicht zwischen den Ländern abgeschafft. Es gab auch eine länderübergreifende Bell- und Beißeingreiftruppe, die bei Zwistigkeiten zwischen verschiedenen Hundegruppen schlichten sollte, Übergriffe von Menschen operativ verhindern oder sühnen sollte, außerdem sicherte sie die Außengrenzen, die in letzter Zeit immer öfter unbefugt überschritten wurden.
Eines Tages wanderte Lotte in den sauerländischen Wäldern, die von den Sauerländer Bracken doch etwas vernachlässigt worden waren, als sich ihr vorsichtig ein Tier näherte, das zwar so ähnlich aussah wie ein Hund, gleichzeitig aber einen sehr unhündischen Eindruck machte mit seinem stechenden Blick aus den schrägen Augen, den spitzen Ohren und dem ungepflegten Fell über einem etwas dürren Körper mit dem langen buschigen Schwanz. Lotte vermutete, dass es sich um einen Wolf, einen Lupus, handeln könnte; davon hatte sie neulich gehört. Der Wolf kam auf den Hund – zu und hüstelte verlegen: „Darf ich dich was fragen?“ Lotte wusste nicht, ob Wölfe immer so höflich waren, aber wenn man so nett angesprochen wird. „Klar“, meinte sie. „Ich würde gern so vieles wissen“, sagte der Wolf. „Wie lebt es sich bei Euch? Ich habe gehört, dass es euch gut geht. Ich würde mit meinen Geschwistern gern bei mal Euch sein, auch um zu lernen, wie Ihr das mit den Menschen gemacht habt, dass die so gut für Euch sorgen; so gut, dass Ihr sie manchmal sogar in Euren Betten schlafen lasst! Ist das nicht ungemütlich und riechen die nicht unangenehm?“
So ging es noch eine ganze Zeit, bis Lotte sich verabschieden musste, um noch vor Nachteinbruch wieder zu Hause sein zu können; sie versprach aber sich zu kümmern. Als sie das Anliegen des Wolfs dann vors kontinentale Parlament bringen konnte, ergab es sich, dass auch aus anderen Teilen der Hundewelt ähnliche Ersuchen gekommen waren. Außerdem gab es Nachrichten, dass z.B. Anatolische Hirtenhunde, Balkanbracken, Afghanische Windhunde und Türkische Mastiffs gar nicht erst gefragt hatten, ob sie in die Union einreisen könnten. Sie waren auf einmal einfach da. Sogleich erhob sich Protestgebell von bestimmten Seiten, die schon länger die Union bekämpften, indem sie zum einen den Hunderassen-Nationalismus durchsetzen, die Hunderassenreinheit gewahrt sehen und unerwünschte Fremde nicht ins Land lassen wollten. Bald gab es überall riesige Rudelbildungen und Protestveranstaltungen, so dass Lotte ihr eignes Land fast nicht wiedererkannte.
Da sie sich aber genauer informieren wollte, ging sie zu einer dieser Versammlungen und hörte dort verschiedene Beller, die das Hundevolk auf ihre Seite bringen wollten. Besonders ein drahtiger Affenpinscher mit kupiertem Schwanz und dem merkwürdigen Namen Björn tat sich hervor und begann seine Rede mit: „Natürlich, liebe Freunde, will ich nicht sagen, dass jeder Wolf ein Terrorist oder jeder Mastiff ein Raubtier ist, aber man wird zum Thema Lupismus-Mastiffmus doch noch was sagen dürfen?!“ Jemand rief: „Pfui Teufel!“ Der Affenpinscher fuhr fort: „Liebe Freunde, ich bin in Sorge! Ich bin in Sorge, dass – vielleicht nicht morgen, und vielleicht auch nicht übermorgen –, dass aber vielleicht in einer nicht so fernen Zukunft auf unseren Hundehütten und –körben, über unseren Betten und Kissen, die von unseren Menschen so gepflegt werden, dass dort eine Wolfsfratze zu sehen sein wird. Und außerdem fressen die uns unser ganzes Schappi weg! Ich frage euch: Wollt ihr das?“
„Nein!“ rief das Publikum: „Widerstand! Widerstand!“
„Wenn wir unsere Dekadenz überwinden, liebe Freunde, dann, liebe Freunde, dann wird mir um die Zukunft nicht bange!“ Das Publikum schrie: „Bravo!“ und Lotte fragte sich, ob der Pinscher Dekadenz nicht mit Toleranz verwechselt hätte, als der schon aufklärte: „Heute tolerant und morgen fremd im eignen Land! Nicht mit uns! Der Zwinger ist voll!“
Lotte wusste, dass sich die Hundepräsidentin Angie, eine Deutsch Drahthaar-Französische Vorstehhündin, dafür stark gemacht hatte, Hunden aus armen Hundevölkern, wie z.B. dem Tuareg-Windhund, dem Eurasier, dem Pekinesen oder dem Mexikanischen Nackthund, Asyl zu gewähren. Damit waren eine ganze Reihe ihrer Ministerkollegen aus verschiedenen Ländern gar nicht einverstanden, wie z. B. der Ungarische Windhund, der Appenzeller Sennenhund, der Bayerische Gebirgsschweißhund, der Österreichische Kurzhaarpinscher oder der Polnische Niederungshütehund. Lotte fragte sich, woher denn dieser plötzliche Hass auf fremde Hunde kam – oder war der schon immer latent da? Sie konnte nicht glauben, dass der vielleicht sogar in den Hundegenen läge.
Als der Sprecher das Asylangebot erwähnte, rief das versammelte Hundevolk: „Volksverräter!“ und „Abschieben!“ Er bellte fort: „Entweder passt sich der Lupismus unseren Sitten, Werten und Normen an – oder er muss verabschiedet werden. Keine falsch verstandene Toleranz! NEIN zu Wolfsfratzen! Sonst werden wir uns gegen den Wolf verschanzen müssen und viele, viele Wolfsschanzen bauen!“
Dann betrat noch ein ausgewachsener Bullterrier, genannt „Der Wilde“, das Podium und schlug vor, dass bereits in unseren Domänen lebende Fremdhunde in spärlich besiedelte Landstriche deportiert und dort geschützt untergebracht werden könnten. Dafür genügten ein paar Quadratkilometer Heide und ein paar brauchbare Menschen. Das Publikum jubelte. Lotte war sehr unwohl, aber sie traute sich nicht spontan, Protest zu bellen, denn sie stand unglücklicherweise mitten in einer Gruppe von Dobermännern sowie Dänischen und Deutschen Doggen.
Sehr verstört verließ Lotte schnell den Versammlungsort, klemmte aber den Schwanz nicht ein, sondern erinnerte sich an ihr unermüdliches, starkes Kämpferherz, das ihr immer geholfen hatte, Nachbars Katze oder so manchen Schwan zu vertreiben oder den Menschen klar zu machen, wo es lang ging. Sie rief alle ihre Kumpel und Kumpelinen zusammen, um mit Ihnen gemeinsam eine große Bewegung für Gleichheit, Toleranz und Buntheit in Gang zu setzen und dafür zu kämpfen, dass alle Hundeländer bunter würden und dass die Hundewürde, die schon ziemlich auf den Hund gekommen war, nicht völlig vor die Hunde gehen würde. Die vielen abschreckenden Beispiele bei den Menschenvölkern taten ihr Übriges.