Mitgefühl für Minotaurus
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Mitgefühl für Minotaurus

Vorgeschichte

Ort: Knossos auf Kreta (Griechenland/Europa)
Datum: mythische Vorzeit

Der athenische König Aigaos – im Hauptberuf Namensgeber der Ägäis – muss nach schwerem Knockout gegen König Minos jedes Jahr sieben junge Männer und Frauen nach Kreta schicken. Ihre Bestimmung: Opfer für Minotaurus sein. Minotaurus ist der Sohn eines Stieres und Minos‘ Frau Pasiphae. Aus Scham über die Mesalliance sperrt Minos das Ungeheuer in ein Labyrinth, gebaut von Dädalus, dem Vater des Ikarus (Anschlussmythos).

Der Athener Theseus bricht nach Kreta auf (Heldenreise). Praktischerweise verliebt sich Minos‘ Tochter Ariadne in ihn und gibt ihm das berühmte Wollknäuel – nicht um zu stricken, Theseus als antiker Typus eher nicht häuslich verortet – sondern um wieder aus dem Labyrinth herauszufinden. Gegenleistung: Heiraten und mit nach Athen nehmen. Die Operation gelingt, Theseus tötet die Bestie, verlässt Kreta zusammen mit Ariadne, lässt diese aber bei einem Zwischenhalt auf Naxos schlafend zurück. Moralisch herausfordernd, aber schön für Freunde und Freundinnen der Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos).

Zwischenresümee: Theseus kommt meist zu gut weg, Minotaurus zu schlecht (Überlieferungsproblematik/Persistenz stereotyper Zuschreibungen)
Aufgabe: Mythos dekonstruieren, dann umschreiben und neues Narrativ finden

Text

Minotaurus: Mischwesen enigmatisches: Tier-Mann-Stier-Hybride,
Animal triste, entstanden aus einer heißblütigen Verbindung.
Polyamorie polymorph, wo die Liebe halt hinfällt im Delta der Venus.

Oder doch ganz anders? Verwachsen, was nicht zusammengehört. Frühes Resultat eines genetischen Experiments? Was Sie schon immer über die Antike wissen wollten, sich aber nie zu fragen wagten. Wusste Mary Shelley mehr?

Minotaurus: Misogyner Menschenfresser, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Meidbewegungen auf engstem Raum.
Raging Bull – Wie ein wilder Stier, mäandert mental, verkannter Peripatetiker vorgeschichtlich postmodern.
Schrecken Athens mit schlechtem Ruf, teakholzhart erarbeitet.

Heute wärst du wohl Grenzschützer, ein T-Rex in Kevlar-Weste für Front-ex-Sold, verteidigst Europa gegen Europa und den Rest der Welt,
auch am Hindukusch.
Endlich mal rauskommen, Urlaub vom Labyrinth und
dabei Menschen getroffen, die wie Nausikaa die reine Stirn der Engel trugen.
Leider auch aus Damaskus und Daressalam, eher schwache Bleibeperspektive: push me back, baby.

Minotaurus: Das Nächste, das wir von dir wissen, ist dein gewaltsamer Tod. Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert – #espada – umkommen (Matthäus 26:52). Corrida im steinernen Irrgarten. Im Spiegel der Tauromachie stirbt es sich schöner und heller das Licht.
Aber wie genau, wissen wir nicht, bleibt im Dunkel des Mythos, die erdrosselte Beredsamkeit.

Tod am Nachmittag wohl durch den toxischen Totmacher Theseus, den Mann vom schlechten alten Schlag, den Torero mit dem sinistren Siegerlächeln, den Ariadne-Umgarner. Tod durch den Typen mit dem roten Faden fürs Leben, den tollen Typen mit dem letalen Charme und den abgründigsten Abendland-Absichten.

Da hatte es Zeus The Godfather doch angenehmer, ewiger Formwandler an der Frauenfront, immer für einen Übergriff zu haben, der Stier nimmt sich Europa auf die Hörner: ego-euro-phallo-zentrisch.

Kein Held:innenepos / schmutziger Lorbeer. Alles wie bei Schulberg und Schiller im Boxring und Theater des Sterbens – #viva la corrida: The bigger they are, the harder they fall.
Immer diese Stiere – Troja – ach so, ja.

Minotaurus: Und sonst? Schöne Kindheit gehabt? Wie lebt es sich denn so im Labyrinth des Lebens? Ohne Sternstunden der Menschheit und viel zu lange ohne Athen zwischen den Zähnen?
Wie ist das? Für immer weggesperrt von der Welt. Pechgeblendet vom Vater-Darsteller. Hortus conclusus mit Härten,
Minotaurus Missgeburt, #el monstruo sin colores. Misfit, nicht gesellschaftsfähig.

Shame of a Nation, Zumutung ohne Ausweg, fast schon zu hässlich für den Mythos. Dunkel, großkopfert, böser Blick. Blond und blauäugig immer besser, uns näher, so hört man jetzt, Empathie dann leichter.
Einfach zu wenig Einfalt und stille Größe. Schöne Grüße von Winckelmann.
An was denkst du im Halbschatten, wenn du mit dir alleine bist? An die europäischen Werte?

Das sind ja die mit schwerer Schlagseite
Im Mittelmeer, Mare Nostrum
Wasserspiele ohne Grenzen
Weit und breit kein Rettungsboot in Sicht
Beim Ertrinken hilft kein Ariadnefaden
Schiffbruch mit Zuschauer
Überdachte Plätze in der VIP-Lounge
Auch von oben immer alles schön trocken
In der Festung Europa

Nehmt einen Anlauf!
Zerstört die Labyrinthe!
Befreit den Minotaurus!

Manfred Luckas©

Name der Autorin/des Autors
Manfred Luckas
Link zur AutorInnen-Website
Einverständnis
einverstanden
Mitgefühl für Minotaurus

2 Kommentare zu „Mitgefühl für Minotaurus

  • 26. Mai 2022 um 16:33 Uhr
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    Blickwinkeltraining. Wunderbar! Und, ach so rar geworden in hiesigen Zeiten, dass man sich übergeben möchte.
    Danke fürs Geschichtchen wie ichs mir schon immer wünschte mit dem Minotaurus.

    Antworten
    • 30. Mai 2022 um 12:14 Uhr
      Permalink

      Großartig und wunderschön!
      Ein Prisma des Mythos und der Gegenwart.
      Wer bestimmt moralisch wen?
      Danke!

      Antworten

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