It doesn’t matter
Es ist so eine Sache mit dem Niederknien, es geht nicht mehr gut. Das Kreuz. So sagt man hier in diesem Land. Das Kreuz, so sagt man zum Rückgrat. Sie fand es lustig, dass das Kreuz, an dem Christus hängt und das Kreuz, das man in seinem Rücken trägt, den selben Namen hier hat.
Backbone, das klingt für sie viel stärker. Das klingt wie ein starker Stamm im Rücken. Wobei das Rückgrat doch aus vielen einzelnen Knochen besteht.
Zum dritten Mal klingelte der Opa von 17 sie heute in ihr Zimmer. Jetzt muss sie ihm die Hausschuhe anziehen. Ihr Backbone beugt sich, und ihre Knie tun weh, aber das geht schon. Nur mit dem Atmen, das ist wirklich schlimm geworden, seit sie diese Schutzmasken tragen müssen. Dabei haben sie diesen Filter. Leider nutzt der nicht viel fürs Atmen.
Er streift die Hausschuhe immer ab, wenn er sich aufs Bett gelegt hat oder sich in seinen Fernsehsessel setzt. Manchmal sagt er ‚dicke schwarze Kuh‘ zu ihr, aber heute nicht. Er weiß längst, dass sie das sehr gut versteht. Er sagt es gern, wenn sie gerade zur Tür hinaus geht.
Aus Nigeria? Einige lassen sich gerne erklären woher sie kommt, und warum, und wie sie herkam. Der von Zimmer 17 war begeistert. Nigeria, wie die Frau im Fernsehen, in dieser Serie, die der Opa gerne schaut. Anni hat es ihr erklärt.
Lindenstraße kennst du doch bestimmt. Und da, da hat eine Nigerianerin ihrem ungeliebten Mann mit einer Gartenschere den Sack ab geknipst. Ist schon ein paar Jahre her die Folge, aber das hat ihm so gut gefallen.
Anni war von Anfang an die netteste hier und schier im ganzen Städtchen. Ja, Städtchen, nennt es Anni, so circa 6000 Leute, die sich langsam daran gewöhnten, dass es eine schwarze Frau Maier hier gibt. Trotzdem, viele Bekannte übergehen Amy, wenn sie alleine unterwegs ist. Manche Leute amüsiert es, wenn sie zusammen gehen, Hans Arm in Arm neben ihr, er weniger als die Hälfte von ihr, und er sagt, ach, lass sie, spielt doch keine Rolle, die sind doch bloß neidisch. Das sagt er oft. Und sie sagt sich, er meint es gut.
Anni will mich nicht mit nach Hause nehmen, denkt Amy, sie ahnt es, ihrem Mann wäre es nicht recht.
Unten vor dem Heim stehen wieder Leute, lassen sich nicht hindern, bis ans Haus zu gehen, zu den Fenstern, winken, reden, schnäuzen die Schluchzer weg. Ein Ehepaar will zur Leitung vorgelassenen werden, reden von einem Anwalt, so laut, dass es übes gekippte Fenster im Speiseraum zu hören ist. Behördliche Anordnung – begründete Maßnahmen – Verhältnismäßigkeit – diese Worte klingen scharf. Abstrakte deutsche Worte, die Amy seit Wochen präsent sind.
Keine Lindenstraße mehr, und jetzt auch noch Corona, ruft der Opa von 17 zum Mann mit dem Sauerstoffgerät rüber. Er darf eigentlich nicht aus seinem Zimmer raus, hat sein Arzt gesagt. Aber er ruft und schreit derart wütend, bis sie ihn holen, dann hat er Tränen in den Augen, wenn sie ihn an ein Tischchen abseits setzen.
Meist am Nachmittag, wenn sie ihr Kaffeepäuschen machen, kurz vor der Abendbrotzeit, da kommt der Plegedienstleiter durchgezischt und er ruft: Aufstehen, aufstehen, los geht’s, weiter.
Aufstehen und Rückgrat zeigen, das hat ihr Hans gerade erklärt, was das heißt. Aufstehen! Die Altenpfleger wie du, hatte er gesagt, die müssten jetzt aufstehen und Rückgrat zeigen. Ihr müsst auf den Tisch hauen, alle, die in den Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten.
Pflegehilfskraft nach Paragraph 43b, 53c nach SBG XI, das hat eingeordnet geklungen, in die deutsche Wirtschaft. Dann Pflegefachkraft! Eine richtige Ausbildung, das war toll, und sie hat deutsch gelernt. Das musste sein, denn in einer deutschen Kleinstadt kommst du nicht weit mit Englisch. Das war in Amsterdam noch anders gewesen, damals vor fünfzehn Jahren, als sie nach Europa gekommen war.
Die Dame im Rollstuhl, die war mal Lehrerin, spricht öfter gerne englisch mit Amy. Jetzt ist sie still und zittert, wenn sie zum Fenster hinaus schaut, isst kaum was. Ihre Familie ist es, die mit dem Anwalt drohten. Sie sitzt mit den zwei Frauen an einem Tisch, die sich von Amy nicht duschen lassen. Mit den Männern hat sie keine Probleme.
Als dann alle gewaschen und bettfertig gemacht, alle Stützkissen gerichtet und nötige Windeln angebracht sind, alle Tröstungen ausgesprochen wurden, und die Nacht eine trügerische Ruhe verspricht, sitzen sie zusammen im Personalraum. Ferdi hat den Fernseher angemacht und sie schauen mit der jungen Praktikantin die Nachrichten. Wird wohl noch eine Weile weitergehen, mit dem Mundschutz und den ganzen Schutzmaßnahmen.
Amy schaukelt ihre Hände neben dem Kopf. Viele von den Alten sind jetzt schon … nicht mehr ganz … na, … bei Sinnen, wagt sie zu bemerken. Die Praktikantin nickt. Die haben ja kein Zeitgefühl, zumindest einige von ihnen, und langsam merken auch die, dass kein Besuch mehr kommt.
Hier konnten sie keine Möglichkeit schaffen, dass Besucher aus der Nähe mit den Heimbewohnern reden könnten. Ist ja ein kleines Altersheim. Der ganze Aufwand wäre zu groß, ist sicher bald vorbei, hieß es.
Die meisten, sind doch froh, dass sie sich ein paar Wochen nicht kümmern brauchen, sagt der Ferdi, er murmelt eher. Leider wird er Recht haben, denkt Amy, und weiß nicht, ob es dem Ferdi so leid tut, wie es ihr leid tut.
Es klingelt. Ferdi will Amy schicken, obwohl er dran ist, und die Frau auf Nummer 12 ihn lieber sieht. Amy atmet tief ein und schaut ihn einen Augenblick lang an. Gerade als sie ihren Mundschutz greifen will, um zu gehen, steht er auf.
Dann ein freier Tag für Amy. Als sie wieder zum Dienst kommt, früh um sechs, ist die Frau von Nummer 7 gestorben. Ihr Lungenödem hatte sie seit längerem, wegen Herz- und Niereninsuffizienz. Keiner durfte zu ihr, die Angehörigen waren sehr traurig. Es hatte nichts mit Corona zu tun.
Das wird bestimmt untersucht werden müssen, meint die Praktikantin. Hoffen wir mal, dass es kein Corona war, sagt Ferdi. Wenn wir das hier im Stall haben, dann wird es übel.
Der Pflegedienstleiter sieht blass aus, als würde er demnächst gehängt werden. Das Geröchel und Gegurgel, das haben die meisten in den letzten Stunden. Da kommts auf Corona auch nicht mehr an, denkt Amy. Wasser in der Lunge, allgemeines Organversagen. Jedenfalls kann das nicht gut sein, wenn jemand kurz vor dem Tod ist, da ist sie überzeugt, dann soll keiner alleine sterben! Sie will das sagen, kann es nicht, reißt barsch Handtücher und Waschlappen aus dem Schrank. War der Pfarrer bei ihr? Die Praktikantin sagt entschieden: Darf doch nicht! Amy packt den Wäschewagen und schiebt los. Ach ja, darf nicht. In Nigeria darf ein Pfarrer auch nicht durch Boko Haram Gebiet fahren, tut es trotzdem, und wird vielleicht geköpft.
Besuchsmöglichkeiten! Hygienevorschriften! Wie soll das vorbereitet werden? Wenn’s schief geht, habe ich die Staatsanwaltschaft vor der Tür! Der Leiter spricht aufgeregt in sein Handy, es hallt durch den Gang. Die Bahre mit der toten Frau wird nach draußen gefahren.
Es soll nicht mehr geduscht werden, der Wasserdampf soll Keime übertragen. Auch wenn’s nicht sicher ist, ob‘s für den Corona eine Rolle spielt, sagt Anni. Das Wetter soll warm bleiben. Beide entfernen die rot-weißen Bänder im Garten, da wo die Stühle stehen. Die werden einzeln genügend weit voneinander entfernt aufgestellt und es sollen Namensschilder angebracht werden.
Amy erzählt das oben der Lehrerin, die allein an ihrem Esstisch sitzt. Und ich hab schon ein schön‘ Platz gelassen, wo ich Sie mit Rollstuhl hinstellen kann.
Der Löffel in der Hand der Lehrerin sinkt in den Joghurt vor ihr, dieser billige, den es im Heim gibt, den sie sowieso nicht mag. Ihr Sohn brachte ihr immer den Bio-Tsampabrei mit Datteln, den hat sie gerne gegessen. Sie führt den Löffel mit Joghurt zum Mund und fängt an zu weinen, der Löffel fällt nach unten, ihre Hand plumpst auf den Tisch, reißt den Joghurtbecher nach unten. Die Frau heult auf. Amy nimmt eine Papierserviette vom Tisch, legt der Frau eine Hand auf die Schulter und wischt ihr den Mund ab. Macht nichts. It doesn’t matter. Obwohl sie weiß, dass die Frau nicht wegen des Joghurtlöffels weint. Amy kniet sich nieder und wischt den Joghurt vom Boden auf.
Amy, Amy, I‘m so sorry.
No, don’t matter. Amy nimmt den Becher, in dem Moment fährt ihr ein Stich in den unteren Rücken. Sie verzieht das Gesicht, atmet tief ein. Es tut verdammt weh diesmal, dabei will sie sagen: Ihr Sohn schafft das bald, es wird bald besser. Sie kann sich gerade Mal an Rollstuhl und Tischkante hochziehen und weghumpeln.
Sie überlegt, ob sie zum Arzt gehen soll, als sie um drei Uhr das Haus verlässt, läuft erschöpft die Einfahrt entlang. Sie zieht den Mundschutz vom Gesicht, und biegt um die Ecke. Sie stößt an einen Mann, der entsetzt zur Seite weicht.
Ey! Pass auf! Wo kommst du denn her, hier gibt’s genug Leute und jetzt auch noch ohne Mundschutz rumlaufen, was! Hier herrschen Vorschriften, basta, hast du was von Mundschutz gehört!
Amy fühlt sich einen Augenblick lang schuldbewusst, schaut ihre Maske in der Hand an, dann wedelt sie damit und schaut den Mann an. Erstens, sagt sie, Sie haben nicht du zu sagen zu mir, Sie verstehen, ja! Und dann mein ich, es sind nicht genug Menschen hier, um alte Leute zu pflegen. Ich arbeite da drin. Sie deutet nach hinten zum Heim. Vielleicht sehen wir uns mal dort.
Sie geht weiter, ihr Herz rast.