Von verwitterten Holzbänken aus lassen wir die Ruder in das Wasser tauchen. Der Kahn gleitet durch Schlieren aus Lindenpollen. Irisches Moosgrün, Deutsches Waldgrün, Granny Smith Grün, Ikeafichtengrün, korsisches Piniengrün, das Grün toskanischer Weintrauben und mehr feiern ein Fest in diesem Spiegel. Am Ufer formieren sich Kaulquappen zu einer schwarzen Wolke. Tropfen lassen fünf Kreise auf dem Wasser wirbeln. Von innen heraus weiten sie sich und gleiten ineinander über. Die Maisonne weht zwischen die Arme der Trauerweide und entzündet einen Lichtertanz auf den Regenbogenforellen. Wie bunte Fähnchen flattern sie. Mir kommen die Europas Fahnen und Wappen in den Sinn, die Städte, ihre Festspiele, die Schlösser, einzigartige Melodien und Poesie. Quellen von Erkenntnis und Inspiration im Einklang mit der Natur.
Der Geruch alter Erde. Vor hundert Millionen Jahren begann Europa als Archipel. Eine Halbinsel, umgeben von zahlreichen Inseln. Seine Erdkruste formierte sich auf einer Unmenge von Gebeinen verschiedenster Organismen und die Geschichte des Steins schreibt sich fort von Spitzbergen bis Syrien, von Irland bis zum Kaukasus. Unwetter stürzten aus allen Himmeln. Etwas Bedrohliches, Anarchisches schütteten sie aus, diese Stürme von Kolchis´ Goldstrand bis zu den Untiefen vor Land´s End. Eine explosive Schwere hängt in ihnen wie ein Schatten aber auch Zartes und Wachsames liegt auf Europas Fundament.
Das Boot schaukelt, unser Blick schweift im Bogen. Hochspannungsdrähte zerschneiden den europablauen Himmel in feine Streifen. Bis die Sterne den Halt verlieren? Erste Hummeln brummen und der Auenwald um uns sirrt. Auf einem Ast schackert ein Elsternpaar metallisch und reibt die Schnäbel dabei. Löwenzahn zackt seine Blätter und Hundskraut wuchert an der Böschung. Gedanken blitzen wie Explosionen auf. Bilder von Schlauchbooten und Mauern und Bränden. Eine Nebelwand rückt näher, milchiggrau schmeckt ihr Mantel. Ein Windstoß zaust rote Gräser, die am Rand des Sees aus einer Grabwiese wachsen. Auch die in Friedenszeiten Geborenen tragen die Folgen von Europas Kriegen in sich.
Kräftig die Ruder durchziehen gegen die Strömung.
„Erfahrungsgemäß entsteht der Hass zwischen Nationen, zwischen Rassen und Klassen, zwischen einzelnen Menschengruppen selten von innen her, sondern meist durch Infektion oder durch Incitation, und das gefährlichste Mittel ihn anzufachen ist die öffentliche, die durch Druckschriften verbreitete Unwahrhaftigkeit“, so schrieb Stefan Zweig 1932.
Es gibt Zeiten des Stillstands. Inwiefern liegt die Kraft Europas im Lösen seiner Probleme? Oder eher in der Kunst, Fragen zu stellen, gerade heute: Wie halten wir Abstand? Wollen wir auch zusammenhalten? Europa hat sich immer wieder nach vorne bewegt. Europa wird es uns schwer machen. Wird es uns enttäuschen? Schätzen wir den Gewinn des Gemeinsamen nur, wenn wir die Isolation spüren?
Europa ist bunt, von permanentem Wandel entfacht, vom Grotesken, vom Chaos, von erschreckend Fremdem, einer nicht zu zähmenden Energie. Die Wasserläufer, die Unken und Algen, der Graureiher, die Stockente, der tiefe Hecht, die ersten Seerosentriebe – sie leben miteinander in dem Biotop und doch für sich.
Europa, das lohnt sich.
Ein sehr poetischer, atmosphärisch geschriebener Text, der mich sehr berührt hat.