Dr. phil. Christoph Quarch

Die gemeinsamen Werte feiern – Wie die Seele Europas sichtbar werden kann

Europa lebt von einer gemeinsamen Kultur und Geschichte, einem gemeinsamen Ethos und gemeinsamen Werten. Sie zu feiern wird dem Kontinent den inneren Zusammenhalt geben, der ihm derzeit fehlt. Dafür könnte eine europäische Delphiade das Mittel der Wahl sein.

Stellen wir uns vor, Europa gliche unserem Sonnensystem: 27 oder 28 Planeten ziehen ihre Bahnen durch Zeit und Raum. Sie halten den gebührenden Abstand, sie folgen ihrem Weg und sind dabei doch wie von Geisterhand verbunden. Damit dieses System zusammenhält, bedarf es eines gut ausbalancierten Gleichgewichtes: Denn die einzelnen Planeten folgen der Bewegungsrichtung ihrer Masse. In der Physik spricht man von Zentrifugalkraft – der Kraft, die das Zentrum flieht. Zugleich sind sie im Sog jenes Zentralgestirns, das man die Sonne nennt. Ihre Gravitationskraft hält das System im Innersten zusammen. Das Gleichgewicht der beiden Kräfte verbirgt den Bestand und die Lebendigkeit des Systems.

Dieses Gleichgewicht ist im europäischen Orbit gestört. Die zentrifugalen Kräfte dominieren. In Großbritannien haben sie obsiegt. Das Land ist auf dem Weg hinaus: splendid isolation. In anderen Ländern lässt sich ähnliches beobachten. Rechtspopulisten nutzen die zentrifugalen Kräfte der Masse. Unter dem Druck der Flüchtlingsströme, dem ökonomischen Niedergang und dem islamistischen Terror werden Energien freigesetzt, die ganze Staaten aus der Bahn zu werfen drohen. Das System Europa wankt, die Fliehkräfte sind auf dem Vormarsch.

Das Zentrum schwächelt

Das muss aber nicht so sein. Denn dass die Fliehkräfte so stark geworden sind, hat einen Grund, der selten bedacht und noch viel seltener aktiv angepackt wird: Das Zentrum schwächelt. Es schwächelt so sehr, dass man ernstlich fragen muss, ob in Europa überhaupt ein solches Zentrum existiert – ob überhaupt noch etwas da ist, was diese Union im Innersten zusammenhält, oder doch zusammenhalten könnte; ob es ein Gravitationszentrum Europas gibt.

Es gibt es noch, es ist jedoch geschrumpft. Und zwar weil niemand sich um es gekümmert hat. Das ist das eigentliche, das dramatische Versäumnis europäischer Politik: Man hat versäumt, dasjenige entschieden und beherzt zu fördern, was einzig und allein das Zeug hat, die Europäischen Union im Innersten zusammenzuhalten: die gemeinsame Kultur, das gemeinsame Ethos, die gemeinsamen Werte – verbunden in einem europäischen Bürgersinn. Man hat sich halbherzig darum gekümmert, doch als es – wie vor einem Jahr in Griechenland – notwendig gewesen wäre, sich jener Werte und Kultur zu besinnen, hat man stattdessen dem gehuldigt, was Europa nicht verbinden wird, auch nicht verbinden kann, von dem man sich jedoch gleichwohl das Wohl des Kontinents verspricht: der Ökonomie.

Aufs falsche Pferd gesetzt

Gewiss, Ökonomie ist gut. Der freie Markt war für Europa viele Jahre lang ein Segen. Wir dürfen dankbar dafür sein. Der Fehler liegt nicht darin, Marktwirtschaft zu treiben. Der Fehler liegt auch nicht darin, einen europäischen Binnenmarkt eingerichtet und ausgeweitet zu haben. Der Fehler liegt darin, sich für den inneren Zusammenhalt fast ausschließlich auf den Markt und die Vernetzung der Wirtschaft verlassen zu haben. Das ist in etwa so, wie wenn man glaubte, ein Planetensystem dadurch im Inneren zusammenzuhalten, dass man Brücken von einem Planeten zum anderen baut und miteinander Handel treibt. Das alles ist gut und schön, aber es lässt das Wesentliche außer Acht: die Menschen.

Kein Mensch fühlt sich auf einem Marktplatz dauerhaft wohl. Dort hat niemand sein Zuhause. Dort kann man nicht wohnen. Die Europäer aber wollen in Europa wohnen. Das können sie nur, wenn sie sich heimisch fühlen. Heimat entsteht durch Kultur, Kultur entsteht durch ein geteiltes Ethos, ein geteiltes Ethos gründet einen Bürgersinn: genau das, was Europa jetzt am meisten fehlt. Die Europäische Union wird die nächsten 50 Jahre nur dann überstehen, wenn es gelingt, die alte Forderung von Jacques Delors zu verwirklichen: Europa eine Seele geben.

Wie kann das gehen? Ein einfaches Mittel gibt es nicht. Es braucht ein ganzes Set von Maßnahmen, um das geistige Gravitationszentral Europas zu stärken und seine gemeinsamen Werte ins Bewusstsein zu heben. Entscheidend dürfte dabei sein, sich der geistigen Wurzeln der europäischen Kultur zuzuwenden, um die ganze Kraft der gemeinsamen Herkunft aufzuwenden. Das klingt so banal, dass man nur darüber staunen kann, dass genau das so gut wie nie geschieht. Das mag damit zusammenhängen, dass man in Europa derzeit reichlich geschichtsvergessen ist. Ein Blick zurück führt aber oftmals weiter. Wer in der Zukunft eine Stufe höher kommen will – genau das muss Europa jetzt –, ist gut beraten, weit in die Vergangenheit zurückzugehen, um Schwung zu holen. Wer solches tut, landet in Delphi.

Der Nabel der Welt

Das alte Griechenland bestand genau wie das heutige Europa aus vielen höchst eigenwilligen Planeten, die gerne miteinander rangen. Und trotzdem wussten sie einander zugehörig. Sie hatten ein Zentralgestirn: die panhellenischen Spiele. Sie fanden in Olympia statt, in Nemea und Isthmia, vor allem aber auch in Delphi, dem Ort, der als „Nabel der Welt“ galt. Die dortigen Spiele waren musische Spiele. Die Sänger und Dichter, Musiker und Choreographen traten zu den Wettspielen an. Von überall kamen sie, um ihre gemeinsame Kultur zu zelebrieren und zu feiern. Auf diese Weise regenerierte sich die hellenische Identität: bei Spiel und Feier – in einem Fest zu Ehren des Gottes, der die Idee und den Geist verkörperte, aus dem das spätere Europa wuchs: Apollon.

Apollon steht für das Prinzip des Gleichgewichts, für Harmonie und Stimmigkeit, Balance und Integration. Er steht für das Miteinander antagonistischer Kräfte, die bunte Symphonie und Mannigfaltigkeit des Lebens, in deren Zusammenspiel Schönheit und Lebendigkeit geboren werden. Er steht für die Gerechtigkeit und für das friedliche Miteinander der Bürgerinnen und Bürger ebenso wie der Völker und Staaten. Kurz: Er steht für all das, was Europa ausmacht – und was in Gefahr gerät, wenn die zentrifugalen Kräfte weiterwachsen.

Kulturspiele für Europa

Der Geist, für den Europa steht, ist eben dieser Geist, der einst in Delphi gefeiert wurde. Nichts liegt näher, als ihn neuerlich zu Ehren zu bringen: Delphische Spiele in Europa abzuhalten – eine Europäische Delphiade, die nicht der Kommerzialisierung und dem Irrsinn erliegt, die sich bei den Olympiaden ausgebreitet haben: Kulturspiele, die also gerade nicht nach Maßgabe des Eurovision Song Contest kommerziell durchdesignt sind, sondern sich bewusst in den Dienst eines Wertes, einer Idee, einer Vision stellen, um derentwillen sie abgehalten werden: des Wertes des Friedens, der Idee der Harmonie, der Vision eines vielstimmigen Europas, bei dem jeder seine Stimme so zu Gehör bringen kann, dass ein stimmiges Ganzes dabei entsteht.

Eine Europäische Delphiade – sie allein wird Europa nicht retten, aber sie kann ein Leuchtfeuer entzünden, dass der Entwicklung des Kontinents die Richtung weist: die Erinnerung an die gemeinsame Wurzel, die Rückbindung an das Wertfundament unsrer Zivilisation: einer Zivilisation, die sich nicht unter das Diktat einer Religion stellt, die vielmehr dem Humanen dient und nicht  den Menschen durch Maschinen überwinden will – sondern einer Zivilisation, die den Grundprinzipien der Natur folgt und diesen gemäß das menschliche Leben erblühen lassen will.

Sich dessen zu vergewissern und das zu bekunden, wäre der Auftrag einer Europäischen Delphiade, bei der Künstler und Kulturschaffende, Dichter und Denker, Wissenschaftler, Politiker und Visionäre miteinander antreten, um den Geist Europas zur Sprache und in die Welt zu bringen. Ein solches Fest kostet nicht viel. Es braucht allein die Unterstützung derer, die die Verantwortung für Europa tragen: der Politiker, der Unternehmen, der Bürgerinnen und Bürger. Es ist eine schöne Vision, die hier in Rede steht: sie hat die Strahlkraft eines echten Zentralgestirns. Nach dem Brexit wäre viel gewonnen, wenn diese Sonne über Europa aufginge.

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