Europäische Freundschaft im Lockdown

Unsere weitgehend harmonische und herzliche Hausgemeinschaft besteht aus neun Parteien und umfasst eine Altersspanne von 92 Jahren. Fünf Parteien sind rein deutsch, drei vertreten europäische Länder von Kroatien über Belgien bis Großbritannien, abgerundet wird das Hausbild durch eine attraktive, junge Familie aus Indien, aus deren Wohnung oft exotische Essensgerüche hervortreten. In den obersten zwei Etagen ist die gemeinsame Sprache Englisch.

Im zweiten Stock wohnt die mit ihren 97 Jahren älteste Bewohnerin, eine Urlaimerin, die 1956 hier beim Erstbezug eine Dreizimmerwohnung mit ihrer fünfköpfigen Familie ergattern konnte. Frau W. ist die positivste, offenste, geistig wachste, friedlichste, herzensbeste neunzigjährige Person, die man sich vorstellen und als Nachbarin wünschen kann. Entsprechend beliebt ist sie, hier im Haus wie auch im gesamten Viertel.

Normalerweise schnappt sie morgens ihren Rollator – ihr Mercedes, wie sie ihn nennt – und geht damit einkaufen. Das Supermarktpersonal kennt sie namentlich, mit Vornamen versteht sich. Und auf einmal, Mitte März 2020, ist Schluss mit Ausgehen. Social distancing ist angesagt. Ältere Verwandte sollen zum eigenen Schutz nicht mehr besucht werden. Wie selbstverständlich erhält Frau W. Hilfsangebote von fast allen Hausbewohnern. Sie ist am liebsten selbständig und will niemandem zur Last fallen. Auf der anderen Seite ist ihr hundertster Geburtstag nun in Sichtweite gerückt und sie hat den Ehrgeiz entwickelt, dieses Ziel zu erreichen und sich nicht durch eine Pandemie auf der Heimstrecke hinraffen zu lassen. Verständlich und vernünftig, versichere ich sie. Sie entscheidet sich letztlich etwas widerwillig, sich unterstützen zu lassen, und nimmt unsere Hilfe an.

Mitten in der Ausgangsperre werden zwei nicht-identifizierte Metallobjekte auf der Baustelle des nahegelegenen Bahnhofsgeländes gefunden, die im schlimmsten Fall Bomben sein könnten. Eventuell droht uns eine Evakuierung. Auch das noch! Unsere geliebte Nachbarin nimmt die Nachricht, wie alles andere, stoisch hin. Ich denke oft, welch Ironie des Schicksals es wäre, wenn ich durch eine „eigene“ Alliiertenbombe 75 Jahre nach Kriegsende umkommen würde. Letztendlich entpuppen sich die „Bomben“ jedoch als ein alter Feuerlöscher und ein anderer, harmloser, metallener Gegenstand. Dennoch haben sie das leidige Zweite Weltkriegsthema wieder auf den Plan gerufen.

Mein Stiefvater berichtet wie, beim Kriegsausbruch, sein Vater ihn und seine Geschwister auf die Treppe hingesetzt und mit ernster Miene verkündet habe, dass er sie bei einer deutschen Invasion erschießen würde. Er war fünf Jahre alt. Die Umstände im Krieg waren weit schlimmer als diese Coronakrise, versichert mir entschieden Frau W. zwischen Tür und Angel, wo all unsere Gespräche aktuell in gebührendem Abstand bei der Einkaufsübergabe stattfinden. Meine Mutter dagegen ist der festen Überzeugung, es sei im Krieg längst nicht so schlimm gewesen. Der Unterschied zwischen dem Leben in einer deutschen Großstadt und dem ländlichen Wales, denke ich mir.

Frau W. zog es jedenfalls 1941 vor, mit ihrer ältesten Tochter, damals ein Kleinkind, vorübergehend zu ihrer Schwiegermutter auf dem Land nach Franken zu ziehen, als nachts zitternd zwischen Kohlehaufen im Keller Schutz zu suchen und zu beten, dass das Haus beim Auftauchen aus der Versenkung noch stünde. Sie kennt Todesangst, hautnah. Ich dagegen kenne ausschließlich ein Leben in Friedenszeit und unbegrenzte Freiheit.

Vor drei Jahren, ein Jahr nach dem Brexit-Referendum, bei dem meine Eltern aus Angst vor Überfremdung für Leave abgestimmt haben, entschied ich mich, neben der britischen die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen und anzunehmen. Ein Herzenskonflikt für mich, ein Nachkriegsgenerationskind, zwischen Geburts- und Wahlheimat. Letztendlich aber eine Entscheidung für europäische Integration, die ich, einmal getroffen, nun auch leben möchte.

Lang lebe meine liebenswürdige Frau W., die sicher auch ohne meine Fußbrücke überlebt hätte: Dennoch bin ich froh und ein wenig stolz darauf, dass sie mir, dem einstigen Kriegsfeind, vor dessen Bombenangriffe sie sich einmal fürchten und fliehen musste, ihr Vertrauen schenkte.

Und noch länger lebe Europa in Frieden trotz der Unruhe, die gefährliche, häßliche nationalistische Tendenzen weltweit hervorrufen!

Name der Autorin/des Autors
Jackie Williams
Europäische Freundschaft im Lockdown

7 Kommentare zu „Europäische Freundschaft im Lockdown

  • 3. Juni 2020 um 19:54 Uhr
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    Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Der Handlungsverlauf schlängelt sich vom Hier und Jetzt nach gestern und vorgestern und dann wieder zurück. In jeder zeitlichen Etappe werden interessante Ereignisse mit menschlichem Erleben und Interpretationen empathisch dargestellt. Sofort bekomme ich Lust auf mehr und möchte mich dafür neugierig und gesprächsbereit in euren Hausflur stellen.
    Sprachlich wird die Leichtigkeit der Geschichte durch einen humorvollen Erzählstil mit entsprechend vielfältigem Wortmaterial dargeboten. Die Sätze reihen sich wie ein hübsches Häkelmuster mal länger, mal kürzer, mal verschlungen aneinander, so dass beim Lesen keine Langeweile entsteht.
    Danke dir!

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  • 27. Mai 2020 um 16:57 Uhr
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    Der neue Alltag in einem ehrlichen Vergleich und in schöne und ehrliche Worte gefaßt! Toll geschrieben! Danke dafür!

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  • 26. Mai 2020 um 21:12 Uhr
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    Ein wunderbarer Text, der, so gewandt und feinfühlig formuliert, sehr treffend einzelne Facetten europäischer Erinnerung und Wahrnehmung über Generationen hinweg und im Verhältnis zur Corona-Pandemie aufzeigt. Ausgesprochen lesenswert!

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  • 26. Mai 2020 um 16:32 Uhr
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    Ein facettenreicher Text, der feinfühlig unsere aktuelle Lage u.a. mit Erinnerungen des 2. Weltkriegs aus verschiedenen Perspektiven gegenüberstellt. Und mit einer sehr natürlichen Brücke zum heutigen Bewusstsein als „Europäer“.
    Der Übergang zu Erinnerungen bzw. Parallelen mit vergangenen Katastrophen mittels der „nicht-identifizierten Metallobjekte“ ist meisterhaft.

    Liest sich wunderbar!

    (Unweigerlich kommt die Frage hoch, wie grundverschieden die schriftlichen Erinnerungen an unsere heutige Ausnahmesituation einmal wohl künftig ausfallen werden – je nach Alter, Situation und Lebenserfahrung der Verfasser. Man darf neugierig sein..)

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  • 26. Mai 2020 um 15:43 Uhr
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    Ein schönes Stück, das unsere jetzige Situation und all die Einschränkungen, über die man sich schnell beklagt, wieder in Perspektive rückt. Und das auf verständliche, ergreifende Weise. Toll!

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  • 26. Mai 2020 um 14:10 Uhr
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    Europa auf kleinstem Raum, in einem Haus – mit all den vielen Facetten, die auch die Länder und deren Menschen sonst zeigen. Prägende Biografien – soweit auseinanderklaffend und doch in einem Miteinander lebbar. Die Idee gefällt mir.

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  • 26. Mai 2020 um 9:14 Uhr
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    Ein sehr ergreifender Text. Vielen Dank!

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