Nie hatte sie sich mehr als Europäerin gefühlt, als Mitte März 2020, als Deutschland sehr schnell die Grenzen zu den Nachbarländern schloss. Die Bilder aus Italien, Frankreich und Spanien waren erschreckend: dort gab es durch Covid 19 bereits zehntausende Tote.
Vielleicht lag es an einer für März geplanten Parisreise, dass sie die Grenzschließung zu Frankreich besonders traf.
„Ce n`est pas vrai“, murmelte sie, als sie die Nachricht auf ihrem Smartphone las und schüttelte den Kopf. Was war mit der deutsch-französischen Freundschaft? Der Amitié franco-allemande wie sie die Franzosen nannten? Nur Pendler kamen noch hinüber – streng kontrolliert.
Bereits am 4.3.20 war mit der Schließung des Louvre ein Zeichen gesetzt worden. Dann kam die Grenzschließung und dann die wochenlange strenge Ausgangssperre in Frankreich und Ausgangsbeschränkungen in Deutschland. Von einem Tag auf den anderen fühlte sie sich eingesperrt.
„Die französische Grenze ist geschlossen und wenn ich jetzt nach Frankreich fliehen wollte, käme ich nicht hin.“, sagte sie zu einer Freundin am Telefon.
„Warum willst du denn fliehen? Dir geht es doch gut in Deutschland?“
„Klar, geht’s mir gut. Aber Frankreich ist plötzlich so weit weg, so unerreichbar…“
„Alle Grenzen sind zu. Aber das gibt sich wieder. Das kann ja nicht ewig dauern…“
„Aber Frankreich! Wir waren doch Freunde. Jetzt sind sie nur noch Gefährder.“ Sie spürte, dass ihre Freundin sie nicht verstand. Das Telefonat wurde dann auch sehr schnell beendet.
Europa ohne Grenzen, das Schengener Abkommen, keine Kontrollen mehr, keine bewaffneten Grenzposten. Oft gab es nur noch ein Schild neben der Straße, das darauf hinwies, dass man gerade eine Grenze passierte. Alle Länder der EU gehörten zusammen. Nur an den Außengrenzen wurde weiterhin streng kontrolliert. Und sie bekam natürlich mit, dass dort zigtausende Flüchtlinge strandeten und unter menschenunwürdigen Bedingungen hausten. Es war ein Privileg, in Europa zu leben, das war ihr sehr wohl bewusst.
Früher im Geschichtsunterricht hatte sie sich immer gefragt, wie es sein konnte, dass Nazigegner und Juden ab August 1942 nicht mehr in die neutrale Schweiz kamen. So schnell waren Grenzschließungen doch gar nicht möglich? Das hätte man doch vorher wissen müssen? Doch, wusste sie nun, das ging ganz schnell. Und selbst wenn man Möbel und Hausrat zurückließ, konnte es trotzdem bereits zu spät sein, um aus Deutschland und den damals besetzten Gebieten zu entkommen.
Und die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich: war damals mit der Maginotlinie und dem Westwall von beiden Seiten gesichert. Das konnte sie sich sowieso nur schwer vorstellen. Lange her… Lang vor ihrer Zeit.
Aber an die Ferien mit ihren Eltern als Kind konnte sie sich noch gut erinnern. Die Aufregung vor der Fahrt, die Enge und Hitze im Auto, die Langeweile und dann endlich wie eine Erlösung die Grenze. Das hektische Kramen ihrer Mutter nach den Pässen, die Erleichterung, wenn die Grenzer sie durchwinkten. Die ersten Schilder auf französisch. Die Vorfreude auf Sand, Meer und Freiheit.
Die Rückfahrt fiel ihr schwerer. Oft saß sie weinend auf der Rückbank. Sie wollte nicht zurück nach Deutschland. Vielleicht auch einfach nicht zurück in ihr geregeltes und forderndes Leben. Die Ferien waren immer zu kurz.
Ihre Mutter drehte sich um. „Hör auf zu heulen. Hör sofort auf!“
„Die Grenzer schauen schon. Bestimmt denken die, wir hätten dich entführt.“, sagte ihr Vater, der im Schritttempo auf das Grenzgebäude zufuhr. Er kurbelte das Fenster herunter und reichte mit der linken Hand die Ausweise hinaus.
Der Grenzbeamte schaute ins Wageninnere und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen ab.
Sie wurden nie aus der Schlange gewunken.
Noch als junger Frau fiel es ihr schwer, nach Deutschland zurückzukehren. Egal, ob sie in Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland gewesen war. Egal ob alleine oder mit Freunden. Völlig egal. Immer, wenn sie auf der Rückreise über die deutsche Grenze musste, fühlte sie eine bodenlose Traurigkeit.
Erklären konnte sie das nie.
Erst im Europa der offenen Grenzen ging es ihr besser. Erst da hatte sie das Gefühl nicht in einem bestimmten Land gefangen zu sein und jederzeit das Land wechseln zu können.
„Europäerin“, sagte sie, wenn man sie nach ihrer Nationalität fragte.
„Europäerin“.
Und erst mit einer kleinen Verzögerung: “Deutsche“.
Eine sehr schöne berührende Geschichte über Reisen und Befindlichkeit. Wunderbar beschrieben, von Annette Katharina Müller – die Vorfreude vorm Ankommen und Trauer beim Verlassen Frankreichs. Danke für Deinen Beitrag
Eine sehr gekonnte Zusammenführung von Privatem und Zeitgeschichtlichem.
In diesem Text wird die lebenslange Liebe zu Frankreich sehr lebendig und nachvollziehbar.
Eine sehr „europafreundliche“ Geschichte, die sehr geschickt privates und geschichtliches Erleben verbindet. Gerade mir als West-Berliner „Junge“ sind Grenzen besonders zuwider. Deshalb war mein Erschrecken auch groß, wie schnell europäische Staaten untereinander dicht machten. Gut, dass das bald zu Ende ist und hoffentlich nicht wieder kommt. Zumindest schon gar nicht von Deutschland aus. Ich bin nicht nur ein Berliner im Kennedy-Sinn, sondern wie Annette Müller bekennender Europäer.
Zuerst dachte ich: „nicht schon wieder Corona“, aber im Lauf der Erzählung erkennt man eigene Erfahrungen und Gefühle wieder, nicht als Tourist in fremde Länder wie Frankreich, Italien oder Skandinavien gereist zu sein, sondern Ergänzung und Bereicherung gefunden zu haben zu deutscher Lebensart und zwar immer auch spontan, wenn es zu eng wurde und eben „grenzenlos“.
Gut erzählt und bei der Szene im Auto muss man lächeln.
Nous sommes l’europe – In diesen Zeiten gilt es dies zu bewahren oder besser noch, alles dafür zu tun, damit der „Geist“ nicht verloren geht…
Am Anfang dachte ich erst noch: „na, ja … ganz brave Europa-frankophile Position … bißchen langweilig. …
gegen Ende dann – eine kleine Gänsehaut nach der anderen … daher meine 5 Sterne !!
Ja, das ist eine schöne persönliche Sicht: wenn das andere Land als irgendwie interessant und anziehend empfunden wird. Begründungen sind nicht erforderlich. Es wirkt wie eine selbstverständliche Akzeptanz des anderen. So wird eine echte Beziehung möglich.