Es war ein Sprung aus dem Elfenbeinernen Turm: vom Studium der
Vergleichenden Mittelalterlichen Literatur zum Sprachendienst der Europäischen
Kommission nach Brüssel. Zunächst aus rein finanziellen Gründen unternommen und
nur als vorübergehende Lösung gedacht. Vorausgegangen waren Aufenthalte in
Frankreich, Großbritannien, Italien , Spanien und Holland. Da ich mir keine
Sprachkurse leisten konnte, waren es Au-pairStellen, Hotel-Jobs , FerienlagerBetreuungen. Im Hinblick auf meine Ambitionen für das Höhere Lehramt wollte ich mir
das den Sprachkenntnissen entsprechende landeskundliche Wissen aneignen. Dabei
stellte ich fest,dass sich Vorurteile gegen bestimmte Mentalitäten bildeten: Franzosen
arrogant und oberflächlich, Holländer langsam und materialistisch, Italiener
undiszipliniert und arbeitsscheu, Engländer praktisch denkend,aber schlechte
Verlierer, Spanier unfähig,aber von unbeugsamem Stolz geprägt….Mich selber hielt ich
für aufgeklärt, tolerant und arbeitsam – echt preußische Offizierstochter! Brüssel
würde mir helfen, dachte ich, solche Vorurteile abzubauen. Das Mittelalter war ja auch
ein sehr europäisches Zeitalter gewesen, zumindest in der Oberschicht. Der Sprung in
die Gegenwart Europas mit all seinen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen
und Widersprüchen schien mir ein spannendes Experiment. Zumal mir die
zweisprachige Gruppenbetreuung beim Deutsch-Französischen Jugendwerk sehr viel
Spaß gemacht hatte.
Die Eignungsprüfung für ein Dolmetsch-Praktikum bestand ich in erster Linie,
weil ich – in völliger Verkennung der Entfernungen – die ganze Nacht gefahren war
und in meinem übermüdeten Zustand wirkte, als sei ich die Ruhe selbst. Dann kam das
Praktikum: Schulung durch beamtete Dolmetscher, aber auch Übungen der
Praktikanten untereinander. Da die EWG bis in die Siebzigerjahre 4 Amtssprachen
hatte, gab es Niederländer, Belgier, Franzosen, Italiener und mich als einzige Deutsche.
Meine Vorurteile verfestigten sich: der Italiener kam immer zu spät und nahm es mit
den Übungen nicht so genau;die Holländerin wirkte unbeweglich und langsam; die
Flamen erschienen selbstbezogen und wenig lernfähig; die Wallonin wirkte nervös und
übereifrig; die Franzosen waren vor allem von intellektueller Überlegenheit geprägt;
ich selber wurde wohl von den anderen als ziemlich verbiestert wahrgenommen.
Aber dann entdeckte ich, dass jede Medaille eine Kehrseite hat.Z.B: dass ein
Italiener mit seinem Charm die Stimmung immer wieder auflockern konnte; dass eine
Französin es schaffte, jede noch so vielschichtige Diskussion auf den Punkt zu bringen;..
dass die Niederländer in ihrer ruhigen Art die Analyse von Konflikten immer so weit
vorantrieben, dass sich am Ende ein Kompromiss abzeichnete; dass der Übereifer die
Wallonin dazu brachte, sich ständig an neue Aufgaben zu wagen, an denen sie wachsen
konnte. usw.
Ich begann, überall da, wo mir etwas missfiel, die Kehrseite der Medaille in den
Blick zu nehmen , und mir fiel auf, dass Europa diese Kehrseiten erst richtig zum
Glänzen brachte. Nicht zuletzt hat mir diese Erfahrung beim Umgang mit meinen
eigenen Unzulänglichkeiten und später bei der Erziehung meiner Kinder sehr geholfen.
Und ich sehe in dieser Bewusstseinserweiterung eine wesentliche gesellschaftliche
Weiterentwicklung,, die nur ein über viele Jahre in freiwilligem Zusammenschluss
gewachsenes Europa leisten kann, das nicht nur dem demokratisch abgestimmten
Interessenausgleich der Mitgliedstaaten dient, sondern darüber hinaus ein
menschliches Miteinander seiner Bürger in all ihrer Verschiedenheit im Auge hat.
BvK
Vorurteile
Es lebe der Unterschied! Aber es lebe auch die Ausnahme!
Ja, genauso ist es, die Menschen sind verschieden, es gibt (zum Glück) auch noch landestypisches und genau diese Vielfalt ist wunderbar.