Wetterbericht für Europa
Das Wetter schlägt seine Kapriolen, und die längst angekündigte Klimaveränderung verliert endgültig den Status einer rein wissenschaftlichen Angelegenheit; immer mehr Bewohnern in Europa kommt ihre diesbezügliche Gelassenheit abhanden: An die Vorhersagbarkeit des Wetters hat man sich in all den Jahren gewöhnt und das Wissen darüber mit Kontrolle verwechselt – schließlich weiß man spätestens am Vorabend, ob man am nächsten Morgen einen Schirm brauchen oder ob sich die Sonne pünktlich zum Wochenendausflug einstellen wird. Wie es sich mit den Gletschern am Nordpol verhält, erfährt man ebenfalls aus dem Radio, der Tagesschau, dem Internet – nicht jedoch am eigenen Leib wie noch der Wärter des gelbschwarzgeringelten Leuchtturms mitten im Meer, den Robbi und Tobbi im versenkten letzten Jahrhundert mit ihrem Fliewatüt aufsuchten: Jener glückliche Matthias spürte den herannahenden Sturm zuverlässig und vorausschauend in seinem linken großen Zeh.
Wir in Europa hingegen haben keine Ahnung, sondern Goretex, wir spüren nichts mehr – wissen dafür alles.
Die Illusion einer solcherart erfahrungslosen Sicherheit droht nun, sich in einer beinahe mystischen Ungewissheit aufzulösen. Die Katastrophe schürt archaische Ängste, begünstigt Aberglauben, Wildwuchs, Verdrängungsmechanismen. Man befindet sich (wieder) in einer Lage, in der man alles und nichts auf das Wetter zurückführen kann, ist unversehens auf sich zurückgeworfen, zugleich selbst Spielball einer Veränderung, die längst in unmittelbarer Nähe wütet und bedrohliche Zeichen sendet, so dass man sich fragen muss: Ist das nun schon die Rache der Götter an der menschlichen Unvernunft? Sturmauge um Auge? Wetterzahn um Zahn für Gier, Maßlosigkeit, Egoismus, Naturvergessenheit? Die Dürren und Fluten betreffen nicht mehr nur die ganz Armen, die verzweifelt an den Elektrozäunen der Reichen rütteln, um Einlass zu finden in die gemäßigteren Klimazonen, wo es noch etwas zu essen gibt, und Wasser, und vielleicht sogar eine Zukunft – die Strafe trifft nun auch uns, die wir doch durch Generationen hindurch gelernt haben, dass so etwas wie Schicksal bei uns nichts verloren hat.
Nun scheint das Wetter auch in unseren Breitengraden für alle spürbar (wieder) näher zu kommen, und doch zeigt unsere Fähigkeit zur Ausblendung von Tatsachen eine so ungeheuerliche Standhaftigkeit, dass Normalität erste Bürgerpflicht bleibt. Solange wir nur die korrekten Zahlen lesen und morgens unseren Kaffee trinken können – fair gehandelt oder von Lidl – solange bleibt alles beim Alten, versprechen wir einander, alles im grünen Bereich.
Und doch… breitet sich unaufhaltsam die Furcht aus, wie ein unendliches Nichts, das alle grauen Herren und Damen längst beherrscht, findet immer neue Nahrung aus Halbwissen, Überinformation und einer kruden Geilheit nach dem Spektakel, selbst wenn dieses den eigenen Untergang bedingt. Die theoretische Distanz unserer Wettersachlichkeit schwächelt, schmilzt in der Hitze von Jahrhundertsommern dahin, und man weiß nicht, wohin mit all dem Schweiß auf der Haut – und wird auch nicht ruhiger im zu trockenen Herbst oder im zu milden Winter. Dass der Frühling auszusterben beginnt, vergisst man ohnehin jedes Jahr mehr, rudert stattdessen hilflos mit den Armen im Meer der Bedeutungslosigkeit inflationär gebrauchter Wetter-Superlative, die uns bislang vergeblich zum Handeln auffordern. Die Distanz zwischen dem Wissen darüber, was dringend, und weltweit, zu tun wäre, und der tatsächlichen Handlungsbereitschaft wirkt überwältigend. Wir befinden uns in der Zeit der Klimakatastrophe. Die ganze Welt ist den zerstörerischen Zwängen einer Wachstums- und Leistungsgesellschaft unterworfen- die ganze Welt? Nein! Ein von unbeugsamen Schülerinnen und Schülern organisierter Protest leistet Widerstand. Eskortiert von einem tückischen Virus stellen sie unsere Selbstgewissheit in Frage, bis wir hoffentlich begreifen: Wenn wir weiter, gefangen in scheinbarer Alternativlosigkeit, daran arbeiten, unsere Grundlagen zerstören, bringen wir nicht nur die europäische Idee, sondern das Leben jedes Einzelnen in Gefahr.
Katharina Körting
Ich finde es wichtig, in der selbstbespiegelnden Krisendiskussion die noch längerfristigeren Fragen dieses Textes nicht aus dem Blick verlieren. Dazu zählen für mich die „Armen, die verzweifelt an den [europäischen] Elektrozäunen der Reichen rütteln“. Darüber steht noch die nicht kleinzuredende Analyse, dass wir vollkommen enkelvergessen „unsere
Grundlagen zerstören“. Wenn wir die zürnenden Götter auf den einen Gott zuspitzen: Er sagte uns laut Archemythos zwar zu, nie wieder eine Sintflut zu schicken. Diese heilige Geistkraft hat damit sicherlich das Potential, unsere falschen Götzen in unseren Köpfen zu schleifen und Frieden zu schaffen. Sie hat allerdings nichts zu unserer Freiheit gesagt, selbst eine katastrophale Flut auszulösen.
Ein guter Text! Weil aber in der Warnungen vor der Apokalypse von Katharina Körting an einer Stelle die Götter erwähnt werden (sie leben also noch!): Deren Rache gilt nicht unserer Unvernunft, sondern unserer Vernunft. Diese nämlich war es, die jene vertrieb und uns dummerweise Glauben machte, wir könnten uns umstandslos an deren Stelle setzen und – beispielsweise – die Natur (auch die menschliche) uns vollständig Untertan machen. Wie die vielen Mythen über die Entstehung und die Geschichte des Menschengeschlechts zeigen, geht so etwas nie gut; die Götter verzeihen eine solche Hybris nicht. Die gegenwärtige Klimaentwicklung und Covid-19 bestätigen die alten Erzählungen.
Das hast du wunderbar auf den Punkt gebracht, Uli. – ich finde auch, ein guter Text, der den Blick mit nicht alltäglichen Aspekten lenkt.